1. KAPITEL
„Bye, bye, Mädchen für alles“, murmelte Juliana Thomsen, als sie sich müde auf einer Bank am Hafen von Atami zurücklehnte. Zwei Tage zuvor war sie von Kalifornien nach Japan geflogen, und der Jetlag steckte ihr noch immer in den Knochen. Jetzt hielt sie ihre Füße in eine öffentliche Wanne mit dampfend heißem Wasser, was auch nicht gerade dazu beitrug, sie munterer zu machen.
„Was soll das heißen?“ Ihre Freundin und Reisebegleiterin Sasha tauchte einen Finger in das Wasser und zog ihn schnell wieder zurück. Ihre rotblonden Locken waren zu einem straffen Pferdeschwanz gebunden, der sogar der steifen Brise standhielt, die vom Meer herüberwehte.
„Ganz einfach: dass ich kein Mädchen für alles mehr sein will“, erwiderte Juliana, deren langes blondes Haar schon ganz klamm war von der hohen Luftfeuchtigkeit, die Anfang Juni an Japans Küste herrschte. „Meine Familie begann mich so zu nennen, als ich nach Parisville zurückkam, um die Leitung unserer Buchhandlung zu übernehmen, weil Tante Katrina sich aus dem Geschäft zurückziehen wollte. Und ehrlich gesagt bin ich froh, das alles dank dieser Reise für eine Weile hinter mir lassen zu können.“
Sasha lächelte und richtete ihren Blick auf die Boote auf dem Wasser vor ihnen. „Na, dann viel Glück, denn das war sicher nicht der Grund, warum deine Tante dich nach Übersee geschickt hat.“
Allerdings nicht, stimmte Juliana ihr im Stillen zu und seufzte. Und dennoch war diese Reise die ideale Gelegenheit für sie, etwas Neues, anderes zu entdecken, fern der viel zu aufmerksamen Blicke ihrer Großtante, die in den letzten vierundzwanzig Jahren für sie gesorgt hatte, seit Juliana als Achtjährige ihre Eltern bei einem Flugzeugabsturz verloren hatte.
Aber Tante Katrinawar der Grund, warum sie in Japan war, und sie liebte die Frau, die ihr eine zweite Mutter geworden war, zu sehr, um sich hier nur eine schöne Zeit zu gönnen und die alte Dame zu enttäuschen.
Und deshalb wird die Pflicht vor dem Abenteuer kommen müssen, dachte Juliana und besann sich auf die Aufgabe, derentwegen sie hergeschickt worden war: das Gemälde zu beschaffen, das ihre Familie schon seit Generationen zu kaufen versucht hatte –Dream Rising, ein Aquarell, das über ein Jahrhundert lang als verloren gegolten hatte und zu einer regelrechten Besessenheit für die älteren Mitglieder ihrer Familie geworden war.
Ein japanischer Kunsthändler namens Jiro Mori hatte das berühmte Gemälde auf einem Flohmarkt in Phoenix entdeckt und es hierher gebracht, um es in einer Galerie in Tokio zu verkaufen. Als die telefonischen Verhandlungen mit Mori nichts ergeben hatten, da der Galerist angeblich erst in einem Monat nach Amerika zurückkehren konnte, hatte Tante Katrina Juliana kurzerhand einen Flug nach Tokio gebucht. Die raffinierte alte Dame glaubte wohl, ihre blonde Großnichte könne mit ihrem „unwiderstehlich guten Aussehen und dem ausgeprägten Geschäftssinn“ erfolgreichere Verhandlungen führen, wenn sie sich persönlich und vor Ort darum kümmerte – bevor es zu spät war und die Coles, die andere Familie, die ebenfalls versucht hatte, das Gemälde aufzuspüren, in Erfahrung brachte, wo es sich befand.
Als Juliana ihre lackierten Fußnägel in dem heißen Wasser betrachtete, bekam sie ein leicht flaues Gefühl in der Magengegend. Plötzlich hatte sie ein völlig anderes Bild vor Augen, eine Erinnerung an eine Zeichnung, die sie vonDream Rising gesehen hatte.
Verschwommene Kurven und ineinander verschlungene Glieder, aus denen sich eine Frau mit langem, offenem Haar und einem feingliedrigen, nackten Körper zu erheben schien, die die Hand nach etwas ausstreckte, das sich außerhalb ihrer Reichweite befand.
Juliana hatte die Zeichnung das erste Mal gesehen, als sie neun gewesen war und sich nach dem Tod ihrer Eltern vor Kummer völlig in sich selbst zurückgezogen hatte. Um sie abzulenken und ihr z