1. KAPITEL
Schon zehn nach sieben? „Dann wird’s ja höchste Zeit, dass ich den Computer ausschalte“, murmelte Emma.
Normalerweise machte sie nicht vor acht Feierabend, und auch heute wäre sie gern noch ein, zwei Stunden im Büro geblieben, um die Monatsbilanz fertigzustellen. Aber das ging leider nicht – ihr Chef hatte die Mitarbeiter auf einen Drink eingeladen, und die meisten von ihnen saßen wohl längst in der nahe gelegenen Countrybar.
Wenn sie sich nicht beeilte, würde sie die Letzte sein. Na ja, wie immer bei solchen Gelegenheiten. Es war typisch für sie, dass sie Zeit und Raum vergaß, wenn sie sich in die Arbeit vertiefte. Doch jetzt sicherte sie ihre Dateien, stand auf und öffnete das Fenster. Sie atmete tief durch, als die angenehm kühle Abendluft hereinströmte. Was für eine Wohltat nach der Schwüle in den Mittagsstunden!
Mit der frischen Brise drangen auch Stimmen zu ihr in den ersten Stock. Weibliche Stimmen, die vom Innenhof kamen, und falls Emma sich nicht irrte, standen dort unten zwei Kolleginnen aus der Rezeption, Becca und Jules. Neugierig beugte sie sich vor und horchte.
„Was meinst du, kommt sie?“, fragte Becca.
„Ob sie kommt?“ Jules kicherte. „Nee, die weiß gar nicht, wie das geht“, fügte sie spöttisch hinzu, und schon prusteten beide vor Lachen.
„Das glaube ich auch. Ich schätze, ihr Sexleben ist so aufregend wie das einer Klosterschwester. Wahrscheinlich hatte sie noch nie einen Freund.“
„Bestimmt nicht. Für die graue Maus interessiert sich doch keiner. Die ist so was von langweilig und verklemmt. Kannst du dir vorstellen, wie sie mit einem Mann flirtet?“
Becca lachte. „Nein, sobald sie den Mund aufmacht, kommen ja nur Zahlen raus. Was anderes hat sie nicht im Kopf, unsere fleißige Buchhalterin.“
Emma erstarrte, und vor Scham stieg ihr die Röte ins Gesicht – die beiden tratschten übersie. Eindeutig. Sie war die Buchhalterin des HotelsSanctuary. Und sie hatte sich noch nie so gedemütigt gefühlt wie in diesem Moment. Es war verletzend, wie Becca und Jules über sie redeten. Auch wenn sie zum Teil nur die Wahrheit aussprachen …
Sie hatte ja wirklich noch nie einen Freund gehabt. Dabei ging sie Männern nicht aus dem Weg. Nein, es hatte sich einfach nie ergeben, da ihr jegliche Zeit für Vergnügungen fehlte. Nach dem Internat hatte sie sich voll aufs Studium konzentrieren müssen, anschließend auf ihren Job.
„Irgendwie tut sie mir ja leid“, fuhr Becca fort. „Sie ist sechsundzwanzig und kennt nur ihre Arbeit. Was für ein ödes Leben.“
„Wie, du hast auch noch Mitleid mit ihr? Ich bitte dich! Es zwingt sie doch niemand, von morgens bis abends zu schuften. Und vor allem sollte sie mal aufhören, es auch von uns zu fordern. Sie ist eine Sklaventreiberin.“
Tja, das war die Strafe dafür, dass man andere Leute belauschte – man erfuhr Dinge über sich, die man nie hatte hören wollen.
Und es stimmte auch nicht. Wenn Jules sie als Sklaventreiberin bezeichnete, geschah das aus purer Gehässigkeit. Emma konnte sich nicht erinnern, jemals unfreundlich zu ihren Kolleginnen gewesen zu sein. Sie erwartete nur, dass jeder seinen Job tat. Und sie selbst ging mit bestem Beispiel voran, denn so war sie erzogen worden. Ihr ganzes Leben lang hatte sie die goldene Regel ihres Vaters beachtet: Arbeite hart, dann wirst du belohnt – mit Lob, Anerkennung und Liebe.
Lob erhielt sie durchaus für ihre Leistungen, sowohl von ihrem Boss als auch von ihrem Dad. Aber Liebe? Nein, niemand liebte einen dafür, dass man Tag für Tag Überstunden machte, und trotz ihrer erfolgreichen Karriere konnte Emma leider nicht von sich behaupten, rundum glücklich zu sein.
Ach, was soll’s? Auch mir wird eines Tages der Richtige über den Weg laufen, dachte sie optimistisch und schloss leise das Fenster. Ihre Träume von der großen Liebe würden schon noch in Erfüllung gehen. Da war sie sich ganz sicher.
Sie hatte nicht vor, sich vom dämlichen Gerede anderer deprimieren zu lassen. Im Gegenteil. Statt sich gekränkt zurückzuziehen, würde sie gleich mit einem strahlenden Lächeln in die Bar marschieren und sich ganz selbstbewus