1. KAPITEL
Der künstliche Weihnachtsbaum sah diesmal noch schlimmer aus als letztes Jahr. Die Plastiknadeln waren schon ziemlich ausgedünnt, und die Äste hingen durch. Sophie Madigan hängte die letzte Christbaumkugel an einen Zweige ganz oben und lächelte angestrengt. „Sieht er nicht festlich aus, Papa?“
Sie blickte über die Schulter zu ihrem Vater, der an dem riesigen Esstisch saß, die Lesebrille auf der Nasenspitze. Bücher übers Fliegen und Landkarten bedeckten fast die gesamte Tischplatte. Er nickte abwesend und nahm einen weiteren Schluck aus seinem Whiskeyglas. Es ist noch nicht einmal Mittag, und er hat sich schon den ersten Drink eingegossen, dachte Sophie besorgt.
„Ich hätte neue Glühbirnchen besorgen sollen“, fuhr sie fort. „Von denen hier ist ja die Hälfte kaputt.“
„Ach was. Es sieht prima aus, Liebes“,sagte ihr Vater, ohne aufzublicken.
Sophie seufzte und begann, die Kartons und Tüten vom Boden aufzusammeln. Wieso machte sie sich eigentlich die Mühe? Mitten im Südpazifik Weihnachten feiern zu wollen war ein aussichtsloses Unterfangen. Wie anders war das früher gewesen, als sie und ihre Eltern an Orte gereist waren, wo ganze Städte weihnachtlich dekoriert gewesen waren und es sogar geschneit hatte.
Hier auf Taratea, einer winzigen Insel in Polynesien, hatte man dank der Passatwinde das ganze Jahr über etwa dreißig Grad, und in der Regenzeit wurde es unglaublich schwül. Der schwere Duft der Hibiskusblüten und das sanfte Rauschen des Regens drangen durch die Ritzen der Fensterläden. Manchmal kam es Sophie vor, als würde es nie wieder aufhören zu regnen.
Sophie hatte gehofft, Weihnachten bei ihrer Mutter in Paris sein zu können. Doch zum dritten Mal in Folge hatte sie die Einladung dann doch noch abgelehnt, um die Feiertage stattdessen mit ihrem Vater, auch bekannt als Jack „Madman“ Madigan, zu verbringen. Weihnachten in Paris wäre wundervoll gewesen. Ihre Onkel und Tanten waren alle hervorragende Köche. Man hätte gegessen, Geschenke ausgetauscht und wieder gegessen.
Als sie das Thema angesprochen hatte, hatte ihr Vater sie natürlich ermuntert, nach Paris zu fliegen. Aber je näher der Zeitpunkt ihrer Abreise gerückt war, desto tiefer war er in seiner Depression versunken. Er hatte niemanden außer Sophie. Keine Verwandten. Kaum Freunde. Seit er nur noch schlecht sehen konnte, hatte er sich fast völlig aus der Gesellschaft zurückgezogen.
Sophie ging zu ihm und tätschelte seine Schulter. „Woran arbeitest du?“
Er hatte eine Karte der Society Islands vor sich ausgebreitet und versuchte, mithilfe einer Lupe die winzige Schrift zu entziffern, die zu einem kleinen Archipel gehörte. Die Augen ihres Vaters wurden seit fünf Jahren immer schlechter. Man hatte ihm sogar die Pilotenlizenz entzogen.
Sophie hatte seinen Job in ihrer kleinen Charterflugfirma übernehmen müssen. Sie boten fast täglich Flüge zwischen Tahiti und allen vierzehn bewohnten Inseln ringsum an. Um aus den roten Zahlen herauszukommen, hatten sie vier der fünf Flugzeuge verkauft. Jetzt bestand die Firma nur noch aus einem Flugzeug und einer Pilotin – sie selbst –, und sie verdienten gerade genug Geld zum Leben.
Sophie hatte versucht, ihren Vater auch zum Verkauf des letzten Flugzeugs zu überreden, damit sie zurück in die Vereinigten Staaten gehen könnten. Dort hätte er die Möglichkeit, sich medizinisch behandeln zu lassen, und sie, einen besser bezahlten Job zu finden. Jack hoffte jedoch noch immer darauf, dass sein Augenlicht plötzlich zurückkehren und er wieder als Pilot arbei