1. KAPITEL
Maddy Greens Atem ging schwer, dennoch beschleunigte sie ihre Schritte, um möglichst rasch den Probenraum zu erreichen. Sie glaubte, die glatte Ballettstange schon unter den Händen zu fühlen, bildete sich ein, die hellen Lichter in den Spiegeln strahlen zu sehen und die gleichmäßigen Geräusche der anderen Tänzer um sich herum zu hören, während sie sprangen, wieder auf dem Boden aufkamen, sich drehten und sich in den Hüften wiegten.
Gerade jetzt brauchte sie dringend etwas, das ihr vertraut war.
Die Doppeltür des Probenraums A der Sydney Dance Company erschien zu ihrer Linken. Maddy schob sie auf. Sobald sie eingetreten war, umfing sie der Geruch nach sauberen warmen Körpern, frischem Schweiß und einem Dutzend verschiedener Deodorants, Parfums und Aftershaves.
Daheim. Sie war daheim.
„Maddy! Wie war dein Termin beim Arzt?“, fragte Kendra sofort, als sie Maddy entdeckte.
Mit erwartungsvollen Gesichtern drehten sich nun auch die anderen Tänzer zu ihr um. Maddy zwang sich zu lächeln und zuckte gleichmütig mit den Schultern.
„Alles in Ordnung“, sagte sie. „Keine Probleme.“
Sie brachte es einfach nicht über sich, den Befund laut auszusprechen, denn dadurch würde er real werden. Wenigstens eine Weile wollte sie sich noch in der Welt verlieren, die sie verzaubert hatte, seit sie als Vierjährige zum ersten Mal das Bild einer Ballerina gesehen hatte.
Kendra flog förmlich quer durch den Raum auf sie zu und zog sie in ihre schlanken kräftigen Arme.
„Fantastisch. Großartige Neuigkeiten. Einfach super“, sagte sie.
Der durchscheinende Trainingsrock flatterte um ihre Beine, als sie zu ihrem Platz in der Mitte des Raumes zurückkehrte. Kendra war erst zweiundzwanzig und hatte ihre Karriere noch vor sich. Sie war eine wundervolle Tänzerin – kraftvoll, grazil, gefühlvoll und leidenschaftlich. Sie würde es an die Spitze schaffen, davon war Maddy überzeugt.
Sie merkte, dass jemand sie beobachtete. Als sie den Blick hob, entdeckte sie Stephen Jones, den Choreografen.
Rasch drehte sie sich weg, um Blickkontakt zu vermeiden. Stephen hatte sie in letzter Zeit oft beobachtet, ihre Bewegungsfähigkeit geprüft und das Leistungsvermögen ihres verletzten Knies. Hatte er gewusst oder geahnt, was der Arzt ihr sagen würde? War irgendjemandem außer ihr klar gewesen, dass es mit ihr vorbei war? Dass sie nie wieder tanzen würde?
Ihr Herz schlug so heftig, dass sie erneut das Gefühl hatte, ihr würde die Luft abgeschnürt.
Sie warf ihre Tasche in die Ecke, schlüpfte aus den Straßenschuhen und beugte sich hinunter, um mit zitternden Händen die Ballettschuhe anzuziehen. Die Bänder raschelten leise, als sie sie um die Knöchel wickelte und sorgfältig festband. Unter dem Rock, den sie nun auszog, trug sie Trikot und Strumpfhose. Als sie fertig war, ging sie an die Stange und fing an, sich aufzuwärmen.
Zuerst machte siepliés, dann ein paarrond de jambes. Dabei hielt sie den Kopf gerade und entspannte die Arme. Jedes Mal, wenn sie sich auf die Fußspitzen stellte, fühlte sie, wie sich ihr Körper geschmeidig und makellos nach ihrem Willen bewegte, und sie sah in dem von der Decke bis zum Boden reichenden Spiegel ei