1. KAPITEL
Rache ist süß.
Andreas Xenides sah zu dem heruntergekommenen Gebäude in der engen Londoner Gasse, das sich auf der im stürmischen Wind schaukelnden Namenstafel als Hotel ausgab.
Wie lange suchte er jetzt schon nach dem Mann, der dort lebte? Wie viele Jahre? Er schüttelte den Kopf, ohne auf die Passanten zu achten, die mit gegen die Kälte hochgeschlagenen Mantelkrägen an ihm vorbeihasteten. Es war unwichtig, wie lange. Jetzt hatte er ihn gefunden.
Das Handy in seiner Tasche klingelte. Mit einem irritierten Stirnrunzeln zog er es hervor. Sein Anwalt hatte doch versprochen, ihn nur anzurufen, falls es ein Problem geben sollte. Doch ein Blick auf die Nummer im Display, und Andreas ließ das Telefon unbeantwortet in die Tasche zurückgleiten. Nichts auf Santorin war wichtiger als das, was heute hier in London geschah. Wusste Petra das nicht?
Der Wind wurde noch heftiger, bevor Andreas die Straße überquert hatte, die grau und nass vor ihm lag. Fußgänger suchten eiligst vor den Böen Schutz. Er stieg die ausgetretene Außentreppe des Hotels empor. Die Tür war verschlossen, wie er vermutet hatte. Es gab eine Klingel und eine mitgenommen aussehende Kamera an der Hauswand. Doch der Zufall kam ihm zu Hilfe. Ein Paar mit festem Schuhwerk und Geldgürteln unter den Regenblousons trat aus dem Haus, zu angewidert vom Wetter, als dass es auf ihn geachtet hätte. Schon stand er im Inneren und folgte den handgeschriebenen Hinweisschildern zur Rezeption.
Die Dielenbretter ächzten bei jedem Schritt unter dem abgelaufenen Teppich. Die Pfeile wiesen ins Souterrain. Auf der Treppe dorthin musste Andreas den Kopf einziehen. Irgendwo plärrte ein Radio, und Andreas rümpfte die Nase über den Geruch von Verfall, der ihm entgegenschlug und gegen den auch das stärkste Reinigungsmittel nicht ankam.
Dieses Gebäude war kaum bewohnbar. Auch wenn die Kapriolen des Londoner Wetters jenseits seiner Macht lagen, zweifelte er nicht daran, dass die Gäste des Hauses wesentlich zufriedener mit den Unterbringungsmöglichkeiten wären, die er ihnen gleich bieten würde.
Am Ende des kurzen Gangs stand eine Tür halb offen, ein weiterer handgemalter Pfeil wies den Weg zum „Büro“. Für einen Moment war Andreas so auf diese Tür und die Ausführung seines lang gehegten Vorsatzes fixiert, dass er die zerzauste Gestalt gar nicht bemerkte, die sich jetzt bückte, einen vollen Abfallsack in der einen Hand, um mit der anderen den Staubsauger aufzunehmen. Wohl die Reinmachefrau, dachte er, als sie sich wieder aufrichtete. Er glaubte schon, sie wolle ihm etwas sagen, dann jedoch drückte sie sich nur in eine Tür, um ihn vorbeizulassen. Dunkle Ringe lagen unter ihren geröteten Augen, das Haar klebte um ihr Gesicht, die Arbeitsuniform war schmutzig. Schnell wandte er den Blick wieder von ihr ab. Als er an ihr vorbeiging, roch er Salmiak und schales Bier. Das war also das Personal, das hier arbeitete. Kein Wunder bei einer solchen Absteige.
Nur vage nahm er ihre sich entfernenden Schritte wahr, hörte, wie der Staubsauger irgendwo anstieß und sie einen leisen Schrei ausstieß. Aber er drehte sich nicht um. Er stand im Begriff, das Versprechen zu erfüllen, das er seinem Vater auf dem Sterbebett gegeben hatte.
Diesen Moment wollte er auskosten, darum verharrte er kurz. Er wünschte, sein Vater könnte hier sein. Doch er war sicher, dass er ihm zusah, wo immer er jetzt auch sein mochte.
Es war so weit.
Mit zwei Fingern stieß er die Tür auf und ließ die ungeölten Angeln seine Ankunft ankündigen. Der Mann am Schreibtisch schaute nicht einmal auf. Er telefonierte und kritzelte etwas auf einen Notizblock.
„Nehmen Sie Platz.“ Der Mann deutete abwesend zu einem kleinen Sofa. „Ich bin gleich fertig.“
„Ich stehe lieber“, stieß Andreas durch seine zusammengepressten Lippen aus. Er sagte es in Griechisch.
Der Kopf des Mannes ruckte hoch, alle Farbe wich aus seinem Gesicht. Mit rot geränderten Augen starrte er zu dem Neuankömmling, krächzte etwas Unverständliches und legte fahrig den Telefonhörer zurück. Überhastet stieß er sich mit dem Stuhl zurück, landete in dem vollgestellten Raum krachend an der Wand, doch er versuchte nicht einmal, aufzustehen. Vielleicht weil seine Knie zu sehr zitterten, vermutete Andreas.
„Was willst du hier?“
Andreas trat in den Raum und baute sich drohend vor dem Schreibtisch auf, hinter dem der Mann kauerte. Träge nahm er einen Brieföffner auf und befühlte ihn mit schlanken, kräftigen Fingern. Der andere beobachtete ihn nervös.
„Es ist lange her, Darius. Oder sollte ich dich lieber Demetrius nennen? Oder vielleicht Dominic? So viele Namen … ich kann sie mir gar nicht alle merken. Du verbrauchst Namen wie andere Leute Toilettenpapier.“
Der ältere Mann leckte sich über die Lippen, gehetzt blickte er um sich. Aus der Nähe konnte Andreas erkennen, wie sehr der ehemalige Freund und Partner seines Vaters gealtert war. Fast schockierte es ihn. Nur wenig älter als fünfzig, hatte Darius nur noch schütteres graues Haar, und einst drahtig und robust, wirkte er jetzt zusammengefallen und knochig. Das Gesicht war von tiefen Furchen durchzogen.
Die Zeit war also nicht spur