1. KAPITEL
Nach dem Applaus legte sich erwartungsvolle Stille über den Konzertsaal und füllte den großen Raum mit einer elektrisierenden Atmosphäre.
Auf der Bühne des Salle Pleyel in Paris atmete Abigail Summers noch einmal tief durch, hielt die Finger über die Klaviatur des Konzertflügels, schloss die Augen und begann zu spielen.
Die Klänge von Beethovens Klaviersonate Nr. 23 flossen aus ihrer Seele in ihre Finger, ergriffen Besitz von ihrem Körper und ihrem Geist. Der ausverkaufte Saal existierte nicht mehr für sie, die Masse des Publikums verblasste. Sieben Jahre als Konzertpianistin und lebenslanger Unterricht hatten sie gelehrt, sich ausschließlich auf die Musik zu konzentrieren.
Und doch, mitten in derAppassionata, wurde sie … sich bewusst. Anders ließ es sich nicht beschreiben. Jemand beobachtete sie. Natürlich, da saßen Hunderte von Menschen im Saal, die sie beobachteten, doch dieses Gefühl hier war anders. Er – instinktiv wusste sie, dass diese Ausstrahlung von einem Mann ausging – war anders. Einzigartig. Sie spürte seinen Blick, auch wenn sie nicht wusste, warum.
Und wer er überhaupt war.
Obwohl ihre Haut prickelte und ihre Wangen erröteten, hob sie nicht den Kopf, sondern spielte weiter, während ihr Körper eine sinnliche Freude empfand, die sie so noch nie vorher erfahren hatte. Sie konnte sich ja nicht einmal sicher sein, ob ihre Wahrnehmung auf einer realen Ursache basierte. Daher wünschte sie plötzlich, das Stück endlich zu Ende zu bringen, damit sie aufschauen und herausfinden konnte, wer sie ansah.
Die Musik floss weiterhin aus ihren Fingern, doch mit dem losgelösten Teil ihres Geistes fragte sie sich, wie so etwas möglich war. Noch nie hatte sie sich gewünscht, ein Musikstück möge zu Ende sein, und noch nie war ihr die Aufmerksamkeit eines Einzelnen aus dem Publikum vorgekommen wie ein Scheinwerfer, der direkt auf ihrer Seele lag.
Wer war er?
Oder bildete sie sich nur ein, dass dort jemand saß? Jemand Außergewöhnliches, auf den sie ihr ganzes Leben gewartet hatte?
Die letzten Noten verklangen, und Abby schaute auf.
Sie erblickte ihn sofort, trotz der gleißenden Bühnenscheinwerfer und des weiten Ozeans verschwommener Gesichter. Es war, als würden ihre Augen magisch von ihm angezogen. Ihm schien etwas Magnetisches anzuhaften, selbst ihr Körper spürte den unwiderstehlichen Sog.
Er sah sie unverwandt an, und einige wenige Sekunden hatte ihr Bewusstsein Zeit, Details zu registrieren: ein dunkler Schopf, das Haar etwas zu lang, ein markantes Gesicht wie gemeißelt, und einfach unglaublich blaue Augen. Leuchtend. Intensiv. Brennend.
Das Rascheln von Konzertprogrammen drang an ihre Ohren. Leichte Unruhe lief durchs Publikum. Abby hätte längst mit dem nächsten Stück beginnen sollen, eine Fuge von Bach. Stattdessen saß sie hier reglos, wie benommen, versunken in die eigenen Gedanken.
Den Luxus, sich weitere Fragen zu stellen, konnte sie sich nicht leisten, auch blieb ihr keine Zeit, nach Antworten zu suchen. Mit einem tiefen Atemzug nahm sie sich zusammen und zwang sich, an nichts anderes als die Musik zu denken, an deren einzigartige Schönheit.
Sie schlug die Tasten an, das Publikum lehnte sich mit einem unhörbaren Seufzer in die Sitze zurück, und noch immer war ihr Bewusstsein auf ihn ausgerichtet.
Und sie fragte sich, ob sie ihm je wieder begegnen würde.
Jean-Luc Toussaint saß auf seinem Platz, jeden Muskel angespannt. Er war erfüllt von einer ahnungsvollen Erwartung, von Hoffnung – ein Gefühl, das er seit Monaten nicht mehr empfunden hatte. Wohl eher seit Jahren. Er hatte überhaupt nicht mehr gefühlt. Doch als Abigail Summers, Wunderkind und weltberühmte Pianistin, die Bühne betrat, da keimte Hoffnung aus der Asche seines früheren Selbst in ihm auf. Ein Gefühl, von dem er gedacht hatte, es nie wieder empfinden zu können.
Natürlich hatte er Fotos von ihr gesehen. Vor dem Saal hingen auch ihre Konzertplakate, künstlerisch bearbeitet, eine graziöse Silhouette von ihr am Flügel. Und doch hatte nichts ihn auf den Moment vorbereitet, als sie auf die Bühne gekommen war, in dem langen schwarzen Abendkleid, den Kopf hoch erhoben, das schimmernde dunkle Haar zu einem eleganten Chignon eingeschlagen. Und nichts hätte ihn vorbereiten können auf die unerwartete Reaktion seiner Seele, seiner Gefühle, auf die Hoffnung und Freude, die ihn durchströmten.
Er versuchte, diese Gefühle als die verzweifelten Auswüchse seiner Einbildung abzutun, denn mehr konnten sie nicht sein. Sechs Monate war Suzanne jetzt tot, und vor knapp sechs Stunden hatte er ihre Notizen und Briefe gefunden und die Wahrheit über ihren Tod herausgefunden. Die Schuld fraß an ihm mit zerstörerische