1. KAPITEL
„Ambrosia!“ Bethany Lambert und ihre jüngere Schwester Darcy traten in das Gemach ihrer ältesten Schwester und blieben wie angewurzelt stehen.
„Oh, wie wunderschön du aussiehst!“ Bethany ließ den Blick über Ambrosias Gewand aus rotem Satin gleiten, bewunderte den tiefen runden Ausschnitt und die zu den Handgelenken hin spitz zulaufenden Ärmel. „Wurde dieses Kleid nicht aus dem Ballen Satin gefertigt, den Papa von seiner letzten Reise aus Paris mitgebracht hat?“
„Ja, das ist gut möglich.“ Ambrosia wandte sich vom Fenster ab, an dem sie die letzte halbe Stunde gestanden und in die Ferne geblickt hatte. Schöne Kleider hatten ihr seit ihrer Kindheit noch nie etwas bedeutet. Und so war es auch heute noch. Als junge Frau von siebzehn Jahren zog sie meistens das an, was die Haushälterin für sie zurechtlegte. Mistress Coffey kümmerte sich um die Garderobe aller Bewohner von Mary Castle.
„Von derUndaunted ist weit und breit nichts zu sehen.“ Ambrosia schaute ihre Schwestern mit unverhohlener Sorge an.
Bethany, ein Jahr jünger, griff nach den Händen der Älteren und versuchte, sie in Richtung Tür zu ziehen. „Sie wird schon kommen“, versicherte sie und setzte hinzu: „Wenn nicht heute Nacht, dann eben irgendwann morgen. Keine Angst, Papa und James werden bald wieder zu Hause sein.“
Darcy war mit fünfzehn Jahren das Küken in der Familie. Jetzt trat sie ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. „Großvater und die anderen sind schon in der Kutsche. Kommt, wir müssen uns beeilen.“
Die drei Mädchen waren sowohl rein äußerlich als auch in ihrem Wesen so unterschiedlich, dass niemand, der sie nicht kannte, sie für Schwestern gehalten hätte. Ambrosia war von großer, aufrechter Gestalt und so hartnäckig und unerbittlich wie ein Mann. Sie hatte lange, wohlgeformte Beine und eine unübersehbar weibliche Figur. Als älteste von den drei Lambert-Schwestern galt sie als Anführerin und stand in dem Ruf,Furchtlos und unerschrocken zu sein.
Bethany war ein Rotschopf mit grünen Augen und einem mit weiblichen Attributen üppig ausgestatteten Körper, der auch in den bescheidensten Kleidern immer noch verlockend wirkte. Ihr übersprudelndes Temperament passte zu den roten Haaren, und kein Mann konnte sich ihrer Ausstrahlung entziehen. Ihr Vater behauptete stets, sie habe bereits bei ihrer Geburt mit den langen Wimpern geklimpert und Alt und Jung praktisch um den kleinen Finger gewickelt.
Darcy, das Nesthäkchen, war von zierlicher Gestalt und hatte blondes Haar sowie stets strahlende blaue Augen. Es war unmöglich, sie nicht aus tiefster Seele zu lieben, denn ihre liebreizende Scheu und ihr hilfsbereites Wesen waren einfach unwiderstehlich.
Nur zögernd ließ sich Ambrosia von ihren Schwestern aus dem Zimmer und weiter die breite Treppe hinunterführen. Widerstrebend folgte sie ihnen durch das schwere Portal nach draußen, wo die Kutsche mit dem Wappen der Lamberts bereits vorgefahren war.
Der alte Newton Findlay reichte ihr die Hand, um ihr beim Einsteigen behilflich zu sein. „Du siehst bezaubernd aus, Ambrosia“, versicherte er und machte eine kleine Verbeugung vor ihr.
„Danke, New.“ Sie lächelte Findlay zu, ihrem Vertrauten seit frühester Kindheit. Er war schon sowohl mit ihrem Großvater als auch mit ihrem Vater zur See gefahren. Erst der Verlust eines Beins bei einem Kampf mit einem Hai hatte ihn dazu gezwungen, die Seefahrt aufzugeben. Seitdem kümmerte er sich um Kutschen und Pferde, machte sich auf dem großen Anwesen überall nützlich und unterhielt die Lambert-Mädchen, seit diese alt genug zum Zuhören waren, mit einem schier unerschöpflichen Vorrat an Seemannsgeschichten.
Jetzt hatte er eine saubere Jacke über seine Seemannskluft gezogen, die er tagaus, tagein trug. Er wollte einen guten Eindruck auf Mistress Coffey, die Haushälterin, machen, die größten Wert auf tadellose Manieren legte.
Sie stand neben der Kutsche und beobachtete, wie Ambrosia in das Gefährt stieg und neben ihren Schwestern Platz nahm. Seit dem Tod ihres Mannes vor mehr als zwanzig Jahren trug sie nur noch schwarze Gewänder, vorzugsweise hochgeschlossen und so sehr gestärkt, dass sie stets leise raschelten, wenn sich Mistress Coffey bewegte.
„Beeil dich, Newton“, sagte sie jetzt und runzelte unwillig die Stirn. „Wir wollen doch nicht zu spät zu Edwinas Teestunde erscheine