: Stephen King
: The Green Mile Roman
: Heyne
: 9783641053420
: 1
: CHF 8.10
:
: Spannung
: German
: 592
: DRM
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Die letzte Hinrichtung

»The Green Mile« - so nennt sich der Todestrakt des Staatsgefängnisses Cold Mountain. John Coffey wurde zum Tode verurteilt, weil er zwei Mädchen missbraucht und ermordet haben soll. Dem Hünen wohnt aber auch eine übernatürliche Kraft inne ... Kann ein Mörder zugleich ein begnadeter Heiler sein? Und wenn ja, darf oder sollte man ihn dann töten?

Verfilmt mit Oscar-Preisträger Tom Hanks.

»So betörend und berührend wie gleichzeitig verstörend.«Entertainment Weekly

Stephen King, 1947 in Portland, Maine, geboren, ist einer der erfolgreichsten amerikanischen Schriftsteller. Bislang haben sich seine Bücher weltweit über 400 Millionen Mal in mehr als 50 Sprachen verkauft. Für sein Werk bekam er zahlreiche Preise, darunter 2003 den Sonderpreis der National Book Foundation für sein Lebenswerk und 2015 mit dem Edgar Allan Poe Award den bedeutendsten kriminalliterarischen Preis fürMr. Mercedes. 2015 ehrte Präsident Barack Obama ihn zudem mit der National Medal of Arts. 2018 erhielt er den PEN America Literary Service Award für sein Wirken, gegen jedwede Art von Unterdrückung aufzubegehren und die hohen Werte der Humanität zu verteidigen.

Seine Werke erscheinen im Heyne-Verlag.

Teil fünf Eine nächtliche Reise (S. 272-273)

1

Mr. H. G. Wells schrieb einmal eine Geschichteüber einen Mann, der eine Zeitmaschine erfindet, und ich habe beim Aufschreiben dieser Erinnerungen entdeckt, dass ich meine eigene Zeitmaschine erschaffen habe. Im Gegensatz zu Wells kann meine jedoch nur in die Vergangenheit reisen - zurück ins Jahr 1932, um genau zu sein, als ich der Obermotz in Block E des Staatsgefängnisses Cold Mountain war -, aber trotzdem ist sie dabei unheimlich wirkungsvoll. Diese Zeitmaschine erinnert mich an den alten Ford, den ich damals fuhr; man konnte sich sicher sein, dass er irgendwann starten würde, aber man wusste nie, ob ein Drehen des Schlüssels genügte, um den Motor anzulassen, oder ob man aussteigen und kurbeln musste, bis einem praktisch der Arm abfiel.

Ich hatte viele leichte Starts, seit ich damit begann, die Geschichte von John Coffey zu erzählen, aber gestern musste ich kurbeln. Ich nehme an, das lag daran, dass ich bei Delacroix’ Hinrichtung angelangt war und ein Teil meines Verstandes das nicht noch einmal durchleben wollte. Es war ein schlimmer Tod, ein schrecklicher Tod, der wegen Percy Wetmore so eintrat, wie er eintrat. Percy, ein junger Mann, der gern sein Haar kämmte, es jedoch nicht ertragen konnte, ausgelacht zu werden, nicht einmal von einem fast kahlköpfigen kleinen Franzosen, der das nächste Weihnachtsfest nicht erleben würde. Wie bei den meisten unangenehmen Aufgaben ist der Anfang am schwersten.

Dem Motor ist es egal, ob man den Schlüssel benutzt oder die Kurbel; wenn er erst einmal angelassen wurde, läuft er wie am Schnürchen. So war es gestern bei mir. Zuerst kamen die Wörter in kleinen Schüben, dann in ganzen Sätzen, dann in einem Sturzbach. Das Schreiben ist eine besondere und ziemlich furchterregende Form der Erinnerung, habe ich festgestellt - es hat etwas Totales, das beinahe an Vergewaltigung grenzt. Vielleicht empfinde ich das nur so, weil ich ein sehr alter Mann geworden bin (was hinter meinem Rücken passierte, wie ich manchmal denke), aber ich bezweifle das.

Ich glaube, die Kombination von Bleistift und Erinnerung schafft eine Art angewandte Magie, und Magie ist gefährlich. Als jemand, der John Coffey kannte und sah, was er bewirken konnte - bei Mäusen und Menschen -, fühle ich mich sehr berufen, das zu sagen. Magie ist gefährlich. Jedenfalls schrieb ich gestern den ganzen Tag, die Worte fluteten einfach aus mir heraus, der Wintergarten dieses hochgejubelten Altenheims wurde durch den Lagerraum am Ende der Green Mile ersetzt, wo so viele meiner Problemkinder auf dem elektrischen Stuhl Platz nahmen, und durch die Treppe, die in den Tunnel unter der Straße führt.

Dort konfrontierten Dean und Harry und Brutal und ich Percy Wetmore angesichts Eduard Delacroix’ rauchender Leiche, und wir ließen Percy sein Versprechen erneuern, sich nach Briar Ridge zur staatlichen Nervenheilanstalt versetzen zu lassen. Es gibt immer frische Blumen im Wintergarten, aber gestern Mittag roch ich nicht ihren Duft, sondern den Gestank des verbrannten Fleischs eines Toten.