1. KAPITEL
„Meine Damen und Herren, hier spricht Ihr Pilot.“
Elenor Brooke hatte gerade geistesabwesend vor sich hingesehen.
Der Pilot räusperte sich. „Wir überqueren jetzt die östliche Grenze des Königreichs Parvan. Momentan befinden wir uns über der Großen Zentralwüste. Wenn Sie rechts sitzen, können Sie in wenigen Minuten in der Ferne die Hauptstadt Shahr-i Bozorg sehen. Sie liegt am Fuße des Kohishir-Gebirges.“
Folgsam wandte Elenor den Blick dem Fenster zu. Tausende haarfeiner Furchen auf dem Kunststoffoval brachen das blendende Licht der Sonne. Elenor kniff die Augen zusammen und ließ den Blick über die Wüste zu den zerklüfteten, schneebedeckten Bergen in der Ferne schweifen. Gerade hatten sie eine Flughöhe, die unterhalb des höchsten Gipfels Shir lag.
Shir. Nach diesem Berg war der gesamte Gebirgszug benannt. Elenor fröstelte.Koh-i shı¯r. Sie sagte den Namen leise vor sich her. Löwenberg. Milchberg. „Der Löwen-Milch-Berg gehört uns, und wir gehören dem Löwen-Milch-Berg“, hatte er zitiert, als sie das Gebirge zum ersten Mal gesehen hatte.Shir an-ı¯ma¯ hast, o ma¯ an-ı¯ shı¯r …
Energisch verdrängte Elenor die Erinnerung an die allzu bekannte Stimme und wandte sich ihrer Sitznachbarin zu, die gerade fragte: „Holt Ihr Verlobter Sie vom Flughafen ab?“
„Ja, sicherlich.“ Natürlich würde Gabriel sie abholen. Er war ein englischer Gentleman, wie er im Buche stand. Außerdem würden seine Beziehungen die Einreiseformalitäten erleichtern. Was den Umgang mit Ausländern betraf, so verhielten sich die kaljukischen Behörden noch immer ein wenig übervorsichtig. Während der Sowjetherrschaft waren kaum Fremde ins Land gekommen. Nach deren Zusammenbruch verlief die Einreise einige Jahre recht unkompliziert. Doch dann führte der Krieg gegen Parvan zum erneuten Abriegeln der Grenzen für Reisende. Außerdem war Kaljukistan nun offiziell ein islamischer Staat und sie eine allein reisende Frau. Gabriel würde sie in jedem Fall abholen.
„Übrigens musste man auf den Ausblick, den Sie gerade genießen, bis vor Kurzem weitgehend verzichten“, erklärte der Pilot, als in der Ferne die Türme von Shahr-i Bozorg auftauchten.
Erst als ihre Augen vom grellen Gegenlicht zu schmerzen begannen, wandte Elenor den Blick ab. Parvan.
„Inzwischen können Verkehrsflugzeuge die Große Zentralwüste wieder überqueren. Aber während des Kriegs zwischen Kaljukistan und Parvan galt das Überfliegen der Wüste als sehr gefährlich. Die Grenze zwischen den Ländern verläuft in dieser Wüste, und nur die Ansässigen kennen ihren genauen Verlauf. Wer sich während des Kriegs hier im Luftraum aufgehalten hat, lief Gefahr, abgeschossen zu werden. Durch den jüngst erlangten Frieden zwischen den beiden Ländern verkürzt sich Ihre Flugzeit um zwei Stunden. In etwa einer halben Stunde werden wir in Shahriallah, der erst kürzlich umbenannten Hauptstadt Kaljukistans landen.“
Elenor blinzelte.Shahriallah. Ach ja, richtig. Sie hatte erwartet, dass er stattdessen Shahr-i Bozorg sagen würde.
Gerade so, als hätte es die vergangenen Jahre nicht gegeben. Oder als wäre ihr Leben in eine andere Spur geraten und sie gerade auf dem Flug nach Hause.
Nein, nicht nach Hause. Ihre Züge verhärteten sich. Was immer er gesagt hatte, Parvan war viel für sie gewesen, ab