1. KAPITEL
Der Gottesdienst war vorüber.
Nell wusste, dass sie aufstehen und hinausgehen musste, aber sie war sich nicht sicher, ob ihre Beine sie tragen würden. Sie hatte sich noch nie so leer gefühlt und wusste nicht, wie sie mit diesem Verlust fertig werden sollte.
Heute war es viel schlimmer als an jenem schrecklichen Tag vor zwanzig Jahren, als man ihr Tegan weggenommen hatte. Damals war sie im Krankenhaus gewesen und hatte unter dem Einfluss von Medikamenten gestanden, sodass sie gar nicht richtig begriffen hatte, was geschah. Doch in dieser Woche hatte ein Autounfall ihr die Tochter endgültig entrissen. Es gab nichts, was Nells Schmerz lindern könnte.
Ihr blieben nur die wenigen Erinnerungen an Tegan. Das neugeborene Baby hatte in ihren Armen gelegen, und die kräftigen Beinchen hatten das Tuch weggestoßen. Schon im Bauch hatte die Kleine kräftig nach ihr getreten. Nell erinnerte sich an das Gesichtchen mit den dunklen Augen, den weichen Flaum dunklen Haars und den winzigen roten Mund. Und an den unverwechselbaren, einzigartigen Babygeruch.
Die Erinnerungen quälten Nell bereits genug. Glücklicherweise blieb ihr das Mitgefühl der Leute erspart, das sich ganz auf Jean und Bill Browne konzentrierte. Sie hatten Tegan adoptiert. Nell wusste, dass sie zu ihnen gehen und mit ihnen sprechen musste, sobald sie ihre Fassung wiedergewonnen hatte.
„Nell?“
Steif drehte Nell sich um. Jean näherte sich der Kirchenbank, in der Nell saß. Ihre Hände spielten nervös mit einem nassen Taschentuch, und ihre Augen wirkten wie erloschen.
„Jean.“ Nell stand mühsam auf. „Es tut mir leid, dass ich noch nicht mit Ihnen gesprochen habe.“
Die beiden Frauen – Adoptivmutter und leibliche Mutter – standen einander gegenüber und sahen sich an. Jean Browne wirkte erschöpft. Ihre hellen Augen waren blutunterlaufen, und das kurze, graue Haar hing schlaff und kraftlos herab.
„Bitte …“ Die Frauen waren sich bereits am Tag nach dem Unfall begegnet, aber jetzt fand keine von beiden die richtigen Worte.
Nell nahm Zuflucht zu den Regeln der Höflichkeit. „Ich möchte Ihnen mein aufrichtiges Beileid aussprechen.“
Jeans Augen schwammen in Tränen. „Für Sie muss es auch schwer sein.“
„Ja.“ Nell versuchte, den pochenden Kopfschmerz zu ignorieren, nahm ihre Handtasche und schob sich unsicher durch die schmale Bankreihe. „Ich bin Ihnen und Bill sehr dankbar. Sie haben Tegan ein glückliches Zuhause gegeben und – die Liebe, die sie brauchte.“
Jean nickte und schenkte Nell ein trauriges Lächeln, das allerdings gleich wieder erlosch. „Sie waren mir neulich eine große Hilfe. Ich hatte gehofft, wir könnten uns mal unterhalten. Über das Baby.“
Nell presste ihre bebenden Finger vor den Mund. Während der Trauerrede war sie fast zusammengebrochen, als der Pfarrer Tegans Sohn erwähnte, der erst vor wenigen Wochen geboren worden war.
„Ich habe Sam heute bei der Babysitterin gelassen“, sagte Jean. „Aber ich weiß, dass Sie ihn gerne sehen würden. Mr. Tucker ist übrigens ebenfalls hier.“
„Mr. Tucker?“ Nell zuckte zusammen.
„Tegans Vater.“
Hätte Nell sich nicht an der Lehne der Kirchenbank in ihrem Rücken festklammern können, wäre sie wahrscheinlich ohnmächtig geworden.
Jacob Tucker ist hier?
Hatte er an der Trauerfeier teilgenommen?
Ein erstickendes Gefühl der Panik erfasste sie, als Jean einen raschen Blick das Kirchenschiff hinaufwarf. Abrupt fuhr Nell herum. Im hinteren Teil der Kirche, in der