1. KAPITEL
Bremsen kreischten, Reifen quietschten, und Georges Armand machte sich auf das Unvermeidliche gefasst.
Warum unvorhersehbare Ereignisse ihn immer wieder aufs Neue erschütterten, vermochte er selbst nicht zu sagen. Eigentlich müsste er doch genau daran gewöhnt sein, denn sein ganzes bisheriges Leben war unberechenbar verlaufen.
Georges war der zweite Sohn von Lily Moreau, einer Künstlerin mit legendärem Ruf – und das nicht nur wegen ihrer Kunst, sondern vor allem wegen ihres Hangs zu einem unangepassten Verhalten. Bei einigem guten Willen konnte man es als bohemehaft bezeichnen. Ihr Leben „unkonventionell“ zu nennen, wäre in etwa dasselbe, als würde man eine kriegerische Auseinandersetzung zu einem „leichten Missverständnis“ erklären.
Lily tanzte unstet wie ein Schmetterling durch das Leben ihrer Kinder. Für Georges war Verlässlichkeit immer ein Fremdwort gewesen. Der Einzige, auf den er als Kind hatte zählen können, war sein älterer Bruder Philippe. Der Rest seiner Kinderwelt schien ständig in Bewegung und nicht greifbar gewesen zu sein.
Seit vier Jahren arbeitete er als Chirurg in Ausbildung im Blair-Memorial-Krankenhaus, aber sein Leben verlief trotzdem weiterhin in ähnlich chaotischen Bahnen. Vor allem seine Dienste in der Notaufnahme waren alles andere als gleichförmig. Manchmal plätscherten die Stunden ereignislos dahin, dann, von einer Sekunde auf die andere, brach plötzlich ohne Vorwarnung die Hölle los.
So wie auch heute Nacht.
Nach einer Doppelschicht im Krankenhaus hätte er sich eigentlich ein paar Stunden Schlaf gönnen sollen, um sich von seiner anstrengenden Arbeit zu erholen. Stattdessen hatte er beschlossen, noch auszugehen. Ganz der Sohn seines Vaters, liebte er Trubel um sich herum.
Mit seinem blendenden Aussehen, den unwiderstehlich blauen Augen und einem betörenden Lächeln zog er Frauen geradezu magnetisch an. Seit seinem zehnten Geburtstag konnte er sich über einen Mangel an weiblicher Gesellschaft nicht beklagen. Von Kind auf hatte er eine Schwäche für Frauen – für große und kleine, für mollige und dünne, für alte und junge. Für ihn spielte das Aussehen keine Rolle, er hielt jede Frau auf ihre Weise für schön und seiner Zuwendung und Aufmerksamkeit wert.
Für eine begrenzte Zeit.
Sie waren drei Brüder: Philippe, drei Jahre älter als er, Alain Dulac, drei Jahre nach ihm geboren, und er selbst, der seiner Mutter am meisten ähnelte. Jeder von ihnen hatte einen anderen Vater. Offenherzig, wie sie nun einmal war, hatte Lily mehr als einmal kundgetan, noch nie einen Mann kennengelernt zu haben, der ihr nicht gefallen hätte – wenn auch jeweils nur für einen begrenzten Zeitraum.
Heute Abend war Georges zu Diana unterwegs. Vor vier Wochen war er ihr zum ersten Mal begegnet. Weil sie verdorbenes Sushi gegessen hatte, war sie mit Magenschmerzen in der Notaufnahme erschienen. Er hatte ihr ein Medikament verschrieben und sie wieder heimgeschickt.
Seitdem hatte er sich ein paar Mal mit ihr verabredet. Diana war brünett, hatte braune Augen und sprühte vor Lebendigkeit. Aber ihr größter Vorzug war, dass sie nicht an einer festen Beziehung interessiert war. Das kam ihm entgegen. Mit Frauen wie ihr konnte man unbeschwert zusammen sein, ohne gleich befürchten zu müssen, dass sie Zeichen missdeuteten und insgeheim schon die Hochzeitsglocken läuten hörten. Mit anderen Worten: Diana war vollkommen.
Als Georges in seinen knallroten Sportwagen – ein Geschenk von Lily zum erfolgreichen Studienabschluss – eingestiegen war, hatte er sich schon einmal den vor ihm liegenden Abend ausgemalt: ein kleines Essen, ein, zwei langsame, gefühlvolle Tänze und sehr viel Romantik.
Aber damit war es von einer auf die andere Sekunde vorbei.
Das Kreischen der Bremsen ließ ihn ruckartig das Lenkrad herumreißen, sodass der Wagen halb die Böschung hinaufschleuderte und zum Halten