1. KAPITEL
Finn beobachtete Sienna Torrance aus den Augenwinkeln. Für heute hatte sie Feierabend und packte ihre Tasche. Sicher würde sie sich gleich von ihm verabschieden und nach Hause gehen.
Er jedoch hatte andere Pläne. Sein Blick ruhte jetzt direkt auf der schlanken jungen Frau mit den langen Beinen und den sanft geschwungenen Hüften.
Sie trugen beide enge Trainingskleidung. Sienna bückte sich geschmeidig nach ihrer Tasche. Dann richtete sie sich wieder auf und warf lässig ihren Pferdeschwanz in den Nacken. Er dagegen war an den Rollstuhl gefesselt.
Genau genommen stimmte das so nicht ganz. Sein linkes Bein war bei einem Autounfall schwer verletzt worden. Aber an guten Tagen konnte er schon wieder am Stock gehen. Seine Krankengymnastin Sienna bestand jedoch darauf, dass er nach den Übungsstunden den Rollstuhl benutzte. Obwohl sein Rollstuhl elektrisch war, hatte sie es sich zur Gewohnheit gemacht, ihn zum Haus zurückzuschieben. Dort übergab sie ihn der Obhut seines Krankenpflegers Dave.
Eigentlich brauchte er keinen Pfleger mehr. Aber Dave war gleichzeitig ausgebildeter Masseur und betätigte sich auch als Hausdiener und Fahrer.
„Kommen Sie noch mit herein und trinken Sie etwas“, lud er sie ein, als sie den Rollstuhl in Bewegung setzte. „Oh, nein danke, Finn. Ich muss los“, erwiderte sie mit ihrer faszinierend dunklen, rauchigen Stimme.
„Wohin? Zum nächsten Patienten? Es ist gleich sechs Uhr! Oder zu Ihrem Freund?“
Sienna zögerte. „Nein, aber ich hatte einen langen Tag.“
„Oder wollen Sie privat nichts mit mir zu tun haben?“
Sie verzog das Gesicht. Geschickt lenkte sie den Rollstuhl über die Rampe nach draußen auf den Weg. Dieser führte zwischen sattgrünen Rasenflächen und farbenprächtigen Blumenbeeten entlang. Bienen summten, Vögel zwitscherten, Schmetterlinge flatterten durch die Luft.
Ein schöneres Anwesen als die auf einer Hügelkuppe gelegene Villa Eastwood ließ sich kaum finden. Das Haupthaus war ganz nach alter Queensland-Tradition errichtet. Es verfügte über eine breite, überdachte Veranda, einen Spitzgiebel und Doppeltüren mit Windfang. Es war nicht aus Holz, sondern aus gelbem Sandstein erbaut, hatte ein schilfgrünes Dach und bot eine atemberaubende Aussicht auf den Brisbane River.
„Ich pflege prinzipiell keine Privatkontakte zu Patienten“, antwortete sie vorsichtig. „Bitte nehmen Sie das nicht persönlich. Außerdem bin ich eine berufstätige Frau mit tausend Verpflichtungen.“
„Wenn Sie nicht auf einen Drink und einen Schwatz mit hereinkommen, stelle ich den Rollstuhl auf Automatik und lasse mich geradewegs in den Fluss rollen“, drohte er.
Sie trat energisch auf die Bremse. „Finn“, sagte sie ruhig, nachdem sie einmal tief durchgeatmet hatte, „seien Sie nicht albern. Ich weiß, Sie sind unzufrieden, aber Sie haben bewundernswerte Fortschritte gemacht!“
Und das stimmte. Bei dem tragischen Unfall war seine Verlobte ums Leben gekommen. Es war wirklich bewundernswert, wie hartnäckig Finn McLeod darum kämpfte, seine Beweglichkeit wiederzuerlangen.
Sie hatte selten solche Willenskraft gesehen. Oft genug hatte sie beobachtet, wie seine Knöchel vor Anstrengung weiß hervortraten und wie er die Zähne in die Unterlippe grub, während er verbissen seine Übungen absolvierte.
Ihr war nicht entgangen, dass er trotz allem ein ungeheuer anziehender, tatkräftiger Mann war, selbst wenn er gelegentlich seine Launen hatte. Doch schon aus beruflichen Gründen verbot sie sich jede weitere Überlegung in dieser Richtung. Abgesehen davon, dass sie zurzeit für Annäherungsversuche von Männern ohnehin unempfänglich war.
„Albern?“, wiederholte er. „Ich möchte Ihnen ein Geschäft vorschlagen, Ms. Torrance. Was ist daran albern?“
Sienna blickte stirnrunzelnd auf sein dichtes dunkles Haar herab, das feucht und zerzaust war. „Was könnte es zwischen uns für Geschäfte geben?“
„Um das herauszufinden, müssen Sie mich schon weiterschieben.“
Ärgerlich schnalzte sie mit der Zunge. Sie war es gewöhnt, dreiste Angebote von Männern schlagfertig zurückzuweisen. Finn McLeod war jedoch der Letzte, dem sie einen plumpen Annäherungsversuch zutraute. Aber worum ging es dann?
„Verraten Sie es mir jetzt, dann entscheide ich, ob ich noch etwas mit Ihnen trinke“, sagte sie kühl. Seine Schultern hoben sich, als ob er still in sich hineinlachte.