: Kerstin Gier
: Lügen, die von Herzen kommen Roman
: Verlagsgruppe Lübbe GmbH& Co. KG
: 9783838706047
: 1
: CHF 7.80
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 288
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB

Hanna hat keinen Freund. Und sie hat die klassische Eieruhrfigur. Zu beidem steht sie. Trotzdem muss man Letzteres ja nicht gleich in die Cyberwelt hinausposaunen. Prompt lernt sie beim Chatten 'Boris' kennen, endlich den Mann, der all das zu haben scheint, was Hanna sich wünscht. Beim Online-Partnerschaftstest erreicht er 397 von 400 Punkten. Einem Real-Date steht nichts mehr im Weg. Wäre da nicht der neue Chef. Der ist nämlich sehr viel charmanter als zunächst vermutet und ein ernsthafter Konkurrent für den 397-Punkte-Mann aus der Chat-Runde ...

2. Kapitel


Bevor mein Chef mich dazu zwang, im Internet einen Mann aufzureißen, war ich mit meinem Leben ausgesprochen zufrieden. Ich war sechsundzwanzig Jahre alt, und meine Karriere als Redakteurin beim Fredemann-Verlag hatte gerade erst begonnen.

Außerdem war ich Single – ausÜberzeugung und aus Zeitmangel –, was mir eine MengeÄrger und unnötige Komplikationen ersparte. Ich hatte liebe Freunde und eine Familie, in der alle auf eine nette Art verrückt und auf eine verrückte Art immer für mich da waren. Mit meinem kleinen Bruder Philipp teilte ich mir luxuriöse hundert Quadratmeter Wohnfläche, und weil diese hundert Quadratmeter im Anbau unseres Elternhauses lagen und ich obendrein als Babysitter für Philipp engagiert war, zahlte ich keine Miete, so dass von meinem gar nicht mal so bescheidenen Einkommen mehr als genug für andere Dingeübrig blieb.

Natürlich wollte ich nicht für immer dort wohnen bleiben, ebenso wenig wie ich für immer Single oder für immer bei ANNIKA bleiben wollte, aber zu diesem Zeitpunkt meines Lebens war ich damit völlig zufrieden.

Dass man mit seinem Leben zufrieden ist, erkennt man am besten daran, dass man mit niemand anderem tauschen möchte, obwohl man eine Menge beneidenswerter Menschen kennt.

Meine Schwester Antonia, genannt Toni, zum Beispiel war so ein beneidenswerter Mensch: Sie war bildhübsch, mit einem gut verdienenden Juristen verheiratet und mit drei entzückenden Kindern gesegnet. Wie alle Mitglieder unserer Familie – von den Angeheirateten mal abgesehen – hatten auch die Kinder dichte, tizianrote Locken, sogar das Baby. Wenn ich mit meiner Schwester und den Kindern spazieren ging, bekamen wir daher immer jede Menge Witzeüber Rothaarige zu hören. Nicht, dass uns das noch etwas ausgemacht hätte – wir kannten sie nur alle schon.

»Philipp hat also schon wieder eine neue Freundin.« Toni biss herzhaft in eine Banane. Wir kamen gerade vom Einkaufen, einer Tätigkeit, der Toni nicht mehr ohne eine erwachsene Begleitperson nachkam, seit ihr Zweijähriger eine Pyramide aus Nutellagläsern zum Einsturz gebracht hatte. Toni behauptete, nackt durch ein Krokodilbecken zu tauchen sei ein Klacks gegen das Unterfangen, mit drei kleinen Kinder einen Supermarkt zu besuchen.

Der Babyjogger, den ich schob, war randvoll mit Obst, Butterkeksen, Windeln und Tiefkühlspinat. Mittendrin schlummerte Baby Leander, gerade mal acht Wochen alt. Seine beiden Geschwister machten etwa zwanzig Meter vor uns den Bürgersteig unsicher.

»Philipp ist gerade mal achtzehn und hatte schon mehr Beziehungen als Mick Jagger in seinem ganzen Leben«, fuhr Toni fort.»Ist sie hübsch, diese Helena?«

Ich zuckte mit den Schultern.»Ehrlich gesagt, sie sieht aus wie Jahre nicht gewaschen und als würde sie sich schon zum Frühstück Valium ins Müsli rühren. Wenn Mama und Jost die kennen lernen, kriegen sie Zustände.«

»Mama nicht, die steht auf Freaks«, meinte Toni.»Sie ist doch selber einer.«

»Ja, aber eine andere Sorte Freak. Finn, lass das!«

»Und du, bleib auf dem Bürgersteig, Henriette!«, schrie Toni. Das war leichter gesagt als getan: Henriette hatte eben erst gelernt, das Fahrrad ohne Stützräder zu fahren, eine beachtliche Leistung für eine Vierjährige, zumal ihr am Hinterreifen das Bobbycar ihres kleinen Bruders klebte, der unentwegt»Aus dem Weg! Aus dem Weg!« brüllte.

Meine Schwester rannte ein paar Schritte. Sie hinderte Henriette daran,über die Bordsteinkante zu kippen und hielt Finn so lange an seiner Kapuze fest, bis ein Sicherheitsabstand zwischen Fahrrad und Bobbycar entstanden war.

»Aus dem Weg!«, brüllte Finn, und Henriette schrie:»Wenn du mich einholst, spucke ich!«

»Das Leben ist eine Bushaltestelle.« Toni seufzte, als ich sie wieder eingeholt hatte. Sie entsorgte die Bananenschale in einem hübschen blaulackierten Briefkasten, offenbar im festen Glauben, es handele sich um einen Papierkorb.»Wenn sie doch nur einmal aufhören würden, sich zu zanken.«

»Kennst du die Leute?«, fragte ich.

»Welche Leute? Finn! Ich hab gesagt, du sollst Henriette in Ruhe lassen! Hörst du wohl auf zu spucken, Henriette!« Toni drehte sich zu mir um.»Sie sind grässlich, oder? Aber das ist auch kein Wunder: Den ganzen Tag brülle ich sie nur an. Wo waren wir stehen geblieben?«

»Bei den Leuten, denen du gerade eine Bananenschale in die Post geworfen hast«, sagte ich.»Außerdem heißt es, das Leben ist eine Baustelle, Toni. Das ist ein Filmtitel. Und deine Kinder sind nicht grässlich. Wir haben uns in dem Alter auch immer nur gezankt, und Mama hat uns nur angebrüllt.«

»Das Leben ist eine Baustelle?«, wiederholte Toni und seufzte.»Wann komme ich denn schon mal ins Kino, hm? Nein, das Leben ist eine Bushaltestelle, bei der man den Bus verpassen oder in den falschen