: Sabine Thiesler
: Der Kindersammler Roman
: Heyne
: 9783641051372
: 1
: CHF 6.90
:
: Spannung
: German
: 544
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Es geschieht am helllichten Tag
Anne und ihr Mann Harald erleben den Albtraum aller Eltern: Während eines Toscana-Urlaubs verschwindet ihr Kind beim Spielen spurlos. Die Suche der Polizei verläuft ergebnislos, und sie müssen ohne ihren Sohn nach Hause fahren. Zehn Jahre später kehrt Anne an den Ort des Geschehens zurück, um herauszufinden, was damals passiert ist. Sie ahnt nicht, wie nah sie dem Täter kommt - und er ihr.

Ein Roman, der einem zuweilen den Hals abschnürt, so schrecklich realistisch ist die Geschichte.

Sabine Thiesler, geboren und aufgewachsen in Berlin, studierte Germanistik und Theaterwissenschaften. Sie arbeitete einige Jahre als Schauspielerin im Fernsehen und auf der Bühne und schrieb außerdem erfolgreich Theaterstücke und zahlreiche Drehbücher fürs Fernsehen (u.a.Das Haus am Watt,Der Mörder und sein Kind,Stich ins Herz und mehrere Folgen für die Reihen Tatort und Polizeiruf 110). Ihr Debütroman 'Der Kindersammler' war ein sensationeller Erfolg, und auch all ihre weiteren Thriller standen auf der Bestsellerliste.

1
Berlin/Neukölln, November 1986
Er war nicht auf der Jagd und hatte nicht vor, sich an diesem nebligen und ungewöhnlich kalten Novembertag sein nächstes Opfer zu suchen. Es passierte einfach, auch für ihn völlig unerwartet. Vielleicht war es schicksalhafte Fügung oder einfach nur ein dummer Zufall, dass er an diesem Morgen verschlafen hatte und anderthalb Stunden später aus dem Haus ging als gewöhnlich.
Ein eisiger Wind fegte durch die Straßen, und es nieselte leicht. Alfred fröstelte und schlug den Kragen seines Mantels hoch. Handschuhe, Schal oder Mütze hatte er nie dabei. Kleidung empfand er als Belastung, den schlichten grauen Pullover und die dunkelblaue Cordhose trug er das ganze Jahr über. Sie waren im Sommer zu dick und im Winter zu dünn und schützten ihn auch jetzt nicht vor dem kalten Wind, der ihm in die Mantelärmel fuhr.
Alfred lebte seit drei Jahren zurückgezogen und vollkommen unerkannt im Berliner Kiez. Er hatte keine Freunde und vermied engere Kontakte, er lehnte Zerstreuung und Unterhaltung jeglicher Art ab, ging nie ins Kino oder Theater und hatte in seiner kargen Hinterhofwohnung auch keinen Fernseher.
Obwohl er erst Anfang dreißig war, zogen sich durch sein volles, leicht gewelltes Haar bereits die ersten grauen Strähnen, was seinem markanten Gesicht einen interessanten Ausdruck verlieh. Auf den ersten Blick war er ein gut aussehender, sympathischer Mann. Seine blassblauen, glasklaren Augen fixierten sein Gegenüber stets sanft und eindringlich und signalisierten großes Interesse. In Wahrheit war eher das Gegenteil der Fall.
Nachdem er kurz überlegt hatte, bog er die nächste kleine Nebenstraße rechts ab, in Richtung Kanal. Es war wenig Betrieb um diese Zeit, die Kinder waren längst in der Schule, und wer nicht unbedingt musste, ging bei diesem Wetter nicht aus dem Haus. Eine Dönerbude, eine Kneipe, ein Bäcker, mehr gab es nicht in dieser Straße. Ein Friseur, ein Zeitungsladen und ein kleiner türkischer Gemüseladen hatten letztes Jahr Pleite gemacht, die Läden waren nicht wieder vermietet worden. Einmal in der Woche kam die Müllabfuhr, das war alles. Die alten Leute waren weggestorben, neue Familien zogen nicht hierher. Nicht in diese Gegend. Viele Wohnungen standen leer, eingeworfene Scheiben wurden nicht mehr erneuert, Tauben nisteten in verdreckten, heruntergekommenen Zimmern und Hausfluren.
In seinen Schläfen begann es dumpf zu pochen. Er wusste, dass dies der Vorbote einer Migräne sein konnte. Gestern Abend hatte er am Küchenfenster gesessen und stundenlang auf die ockergelbe, fleckige Fassade des Quergebäudes und eine graue Mauer gestarrt, die den Hinterhof vom Nachbargrundstück trennte. Der Hof war asphaltiert, irgendjemand hatte einen Blumentopf mit einem verkümmerten Gummibaum neben die Mülltonnen gestellt. Sicher, um ihn loszuwerden, und nicht, um den Hinterhof zu begrünen. Jetzt welkte diese kümmerliche Pflanze schon seit Wochen vor sich hin und war für die Mieter des Hauses die einzige Natur weit und breit.
In der einen Hand hielt er den Brief, den er immer wieder las, und in der anderen das Rotweinglas, aus dem er immer wieder trank. Seine beiden unerträglichen Schwestern, die Zwillinge Lene und Luise, teilten ihm la