: Herfried Münkler
: Die Deutschen und ihre Mythen
: Rowohlt Verlag Gmbh
: 9783644105515
: 1
: CHF 13.00
:
: Regional- und Ländergeschichte
: German
: 608
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Herfried Münkler schreibt über die Deutschen und ihre Geschichte im Spiegel ihrer Mythen. Dabei erweckt er alte Sagen - etwa um die Nibelungen - zu neuem Leben, besichtigt schicksalhafte Orte wie Weimar, Nürnberg oder den Rhein und lässt historische Persönlichkeiten wie Hermann den Cherusker, Friedrich den Großen oder den Papst auftreten - selbst die D-Mark fehlt nicht in diesem Reigen. In einer großen historischen Analyse zeigt Münkler, wie Mythen unsere nationale Identität geformt haben und welch motivierende und mobilisierende Kraft ihnen eignet - im Positiven wie im Negativen. Denn in der deutschen Geschichte gingen Mythos und Politik stets Hand in Hand. So dienten die Schlacht im Teutoburger Wald oder der Drachentöter Siegfried der inneren Militarisierung der Deutschen, und das «Unternehmen Barbarossa» führte sie direkt in den Untergang: Nach 1945 erblühte die Bundesrepublik im Mythos vom «Wirtschaftswunder», die DDR richtete sich am «antifaschistischen Widerstand» auf. Heute dagegen ist Deutschland ein mythenarmes Land - ist das ein Fluch oder ein Segen? Ein aufschlussreiches Werk nicht nur über die Geschichte und Mentalität der Deutschen, sondern auch über die Politik der Gegenwart - souverän dargestellt und spannend zu lesen. «Ein Bildungserlebnis.» Welt am Sonntag

 Herfried Münkler, geboren 1951, ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität und eine unverzichtbare, prägende Stimme in den Debatten unserer Gegenwart. Viele seiner Bücher gelten als Standardwerke, etwa  «Imperien», «Die Deutschen und ihre Mythen», «Der Große Krieg» oder «Die neuen Deutschen» (mit Marina Münkler), allesamt Bestseller. Zuletzt erschienen «Welt in Aufruhr» und «Macht im Umbruch», die ebenfalls lange auf der «Spiegel»-Bestsellerliste standen. Herfried Münkler wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Wissenschaftspreis der Aby-Warburg-Stiftung, dem Carl Friedrich von Siemens Fellowship, dem Preis der Leipziger Buchmesse und dem Bruno-Kreisky-Preis für das politische Buch. 

Einleitung


Verglichen mit ihren europäischen Nachbarn oder den USA, ist die Bundesrepublik Deutschland eine weithin mythenfreie Zone – zumindest, wenn es um politische Gründungs- und Orientierungsmythen geht: kein Sturm auf die Bastille mit anschließender glorreicher Revolution, die zum politischen Orientierungszeichen einer ganzen Epoche wurde, wie in Frankreich;[1] kein Unabhängigkeitskrieg, in dem politische Werte durchgesetzt wurden, und keine Erzählungen über die zähe Selbstbehauptung kleiner Gruppen in einer feindlichen Umgebung, an der man sich ein Beispiel für gegenwärtige Herausforderungen nehmen könne, wie in den USA;[2] keine ungebrochene Erinnerung an eine glanzvolle imperiale Epoche, in der man der Welt Ordnung und Zivilisation gegeben habe, aus der die Eliten Selbstbewusstsein ziehen, wie in England; und auch keine identitätsstiftende Erinnerung an Untergang und Wiedererstehung, an heroischen Widerstand, der am Schluss von Erfolg gekrönt gewesen ist, wie in Polen.[3] Die Beispiele reichen vom Siegeskult bis zur stolzen Opfererzählung, vom politischen bis zum technologischen Führungsanspruch und zeigen die Bandbreite, innerhalb deren politische Mythen ihre Wirkung entfalten können. In Deutschland findet sich nichts Vergleichbares, lediglich die Erinnerung an das zweimalige politisch-militärische Scheitern in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und die furchtbaren Verbrechen des Nationalsozialismus, zunächst schamhaft beschwiegen, dann aber, zumindest von den Historikern, entschlossen aufgearbeitet.

Auch das sind Großerzählungen, aus denen nationale Identität gewonnen wird, nur dass sie durchgängig mit negativen Vorzeichen versehen sind.[4] Deutschland nimmt insofern eine Sonderstellung ein; kein anderes Land hat sich einer ähnlichen Erinnerungsarbeit unterworfen und die Zeichen moralischer Schande so sichtbar gemacht: nicht Japan, nicht Russland als Nachfolger der Sowjetunion und schon gar nicht Italien. Damit kann man als Deutscher einverstanden sein, aber Stolz will sich angesichts dessen, was da erinnert wird, nicht einstellen. Was aus der intensiven Beschäftigung mit der Vergangenheit erwächst, ist ein politisches Selbstverständnis, das sich weder lautstark noch demonstrativ kommunizieren lässt.

Man kann diesen Mangel freilich auch als Vorteil begreifen: Endlich ist es in Deutschland möglich, Politik jenseits mythischer Irrungen und Wirrungen, ohne narrative Verlockungen und frei vom Ballast eines geschichtlichen Wiederholungszwangs allein auf der Grundlage rationaler Interessenkalküle und diskursiven Erwägens zu betreiben. Aber so einfach sind die Dinge nicht. Das zu zeigen ist die Absicht dieses Buches. Es gibt keinen geraden Weg «vom Mythos zum Logos»,[5] schon gar nicht in der Politik, und auch Max Webers gerne bemühte Entzauberungsdiagnose ist, genauer betrachtet, viel zu melancholisch, als dass sie als Trompetensignal des Fortschritts in eine bessere, weil vernünftigere Welt verstanden werden könnte.[6]

Tatsächlich ist man nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik keineswegs gänzlich ohne Mythen ausgekommen, nur waren diese nicht mehr auf die Politik, sondern auf den individuellen Wohlstand und dessen Zurschaustellung bezogen. Während man in der DDR versuchte, eine alternative Narration deutscher Geschichte gründungsmythisch aufzubereiten, in der Volksaufstände und revolutionäre Projekte an die Stelle der Kriege und Schlachten traten, verzichtete man im Westen auf einen offiziellen Gründungsmythos und begnügte sich damit, ein ausgesprochen symbolarmer Staat zu sein. Das wurde anfänglich durch den Provisoriumscharakter der Bundesrepublik erheblich erleichtert.[7] So verlagerte sich das Bedürfnis nach mythischer Narration und symbolischer Repräsentation von Politik und Staat auf Markt und Konsum. Der Volkswagen wurde zum Zeichen des Dazugehörens, und der Mercedes war das Symbol des gelungenen Aufstiegs, die Bestätigung des Erfolgs. Überspitzt gesagt, löste der Mercedesstern das Eiserne Kreuz der Kriegsgeneration ab. Käfer und Golf