Einleitung
Verglichen mit ihren europäischen Nachbarn oder den USA, ist die Bundesrepublik Deutschland eine weithin mythenfreie Zone – zumindest, wenn es um politische Gründungs- und Orientierungsmythen geht: kein Sturm auf die Bastille mit anschließender glorreicher Revolution, die zum politischen Orientierungszeichen einer ganzen Epoche wurde, wie in Frankreich;[1] kein Unabhängigkeitskrieg, in dem politische Werte durchgesetzt wurden, und keine Erzählungen über die zähe Selbstbehauptung kleiner Gruppen in einer feindlichen Umgebung, an der man sich ein Beispiel für gegenwärtige Herausforderungen nehmen könne, wie in den USA;[2] keine ungebrochene Erinnerung an eine glanzvolle imperiale Epoche, in der man der Welt Ordnung und Zivilisation gegeben habe, aus der die Eliten Selbstbewusstsein ziehen, wie in England; und auch keine identitätsstiftende Erinnerung an Untergang und Wiedererstehung, an heroischen Widerstand, der am Schluss von Erfolg gekrönt gewesen ist, wie in Polen.[3] Die Beispiele reichen vom Siegeskult bis zur stolzen Opfererzählung, vom politischen bis zum technologischen Führungsanspruch und zeigen die Bandbreite, innerhalb deren politische Mythen ihre Wirkung entfalten können. In Deutschland findet sich nichts Vergleichbares, lediglich die Erinnerung an das zweimalige politisch-militärische Scheitern in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und die furchtbaren Verbrechen des Nationalsozialismus, zunächst schamhaft beschwiegen, dann aber, zumindest von den Historikern, entschlossen aufgearbeitet.
Auch das sind Großerzählungen, aus denen nationale Identität gewonnen wird, nur dass sie durchgängig mit negativen Vorzeichen versehen sind.[4] Deutschland nimmt insofern eine Sonderstellung ein; kein anderes Land hat sich einer ähnlichen Erinnerungsarbeit unterworfen und die Zeichen moralischer Schande so sichtbar gemacht: nicht Japan, nicht Russland als Nachfolger der Sowjetunion und schon gar nicht Italien. Damit kann man als Deutscher einverstanden sein, aber Stolz will sich angesichts dessen, was da erinnert wird, nicht einstellen. Was aus der intensiven Beschäftigung mit der Vergangenheit erwächst, ist ein politisches Selbstverständnis, das sich weder lautstark noch demonstrativ kommunizieren lässt.
Man kann diesen Mangel freilich auch als Vorteil begreifen: Endlich ist es in Deutschland möglich, Politik jenseits mythischer Irrungen und Wirrungen, ohne narrative Verlockungen und frei vom Ballast eines geschichtlichen Wiederholungszwangs allein auf der Grundlage rationaler Interessenkalküle und diskursiven Erwägens zu betreiben. Aber so einfach sind die Dinge nicht. Das zu zeigen ist die Absicht dieses Buches. Es gibt keinen geraden Weg «vom Mythos zum Logos»,[5] schon gar nicht in der Politik, und auch Max Webers gerne bemühte Entzauberungsdiagnose ist, genauer betrachtet, viel zu melancholisch, als dass sie als Trompetensignal des Fortschritts in eine bessere, weil vernünftigere Welt verstanden werden könnte.[6]
Tatsächlich ist man nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesrepublik keineswegs gänzlich ohne Mythen ausgekommen, nur waren diese nicht mehr auf die Politik, sondern auf den individuellen Wohlstand und dessen Zurschaustellung bezogen. Während man in der DDR versuchte, eine alternative Narration deutscher Geschichte gründungsmythisch aufzubereiten, in der Volksaufstände und revolutionäre Projekte an die Stelle der Kriege und Schlachten traten, verzichtete man im Westen auf einen offiziellen Gründungsmythos und begnügte sich damit, ein ausgesprochen symbolarmer Staat zu sein. Das wurde anfänglich durch den Provisoriumscharakter der Bundesrepublik erheblich erleichtert.[7] So verlagerte sich das Bedürfnis nach mythischer Narration und symbolischer Repräsentation von Politik und Staat auf Markt und Konsum. Der Volkswagen wurde zum Zeichen des Dazugehörens, und der Mercedes war das Symbol des gelungenen Aufstiegs, die Bestätigung des Erfolgs. Überspitzt gesagt, löste der Mercedesstern das Eiserne Kreuz der Kriegsgeneration ab. Käfer und Golf