: Antje Bostelmann, Benjamin Bell
: Kindergarten statt Kummergarten! So geht's: Wie Kinder, Eltern und Erzieher froh werden und warum unsere Gesellschaft davon profitiert
: S. Fischer Verlag GmbH
: 9783104009643
: 1
: CHF 10.00
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: Angewandte Psychologie
: German
: 224
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Die Zukunft Deutschlands entscheidet sich im Kindergarten Keine Institution ist für die Zukunft unserer Gesellschaft so wichtig wie der Kindergarten: Ob Bildung, Integration oder die Vermittlung von grundlegenden Werten, dort werden die Weichen gestellt. Doch der Kindergarten bereitet uns Kummer: Auf der einen Seite stehen die hohen Erwartungen und Forderungen der Eltern und Politiker, auf der anderen Seite wird gestrichen und gespart, und Erzieherinnen sind miserabel bezahlt. Grund genug in einer von Fachfremden und Theoretikern bestimmten Debatte, den wirklichen Experten und Praktikern eine Stimme zu geben. Die langjährigen Erzieher und Pädagogen Antje Bostelmann und Benjamin Bell machen deutlich, welche Potentiale in der Institution Kindergarten stecken. Sie zeigen ganz konkret, wie Betreuung und Erziehung gelingen kann und was sich verändern muss, damit wir den Kindern, den Eltern und den gesellschaftlichen Anforderungen besser gerecht werden. Für unsere Zukunft und die unserer Kinder.

Antje Bostelmann, 1960 in Rostock geboren, ist ausgebildete Krippenerzieherin und arbeitete einige Jahre als Erzieherin. 1990 gründete sie KLAX, ein pädagogisches Dienstleistungsunternehmen, welches äußerst erfolgreich Krippen, Kindergärten und Schulen betreibt, Pädagogen aus- und fortbildet und im europäischen Rahmen an der Entwicklung pädagogischer Programme und Methoden beteiligt ist. Antje Bostelmann hat drei Kinder und lebt in Berlin. Benjamin Bell hat Erziehungswissenschaften und Germanistik an der Freien Universität Berlin studiert. Er ist Autor mehrerer pädagogischer Fachbücher und leitet die KLAX-Schulen, deren Umsetzung selbstorganisierter Lernformen einzigartig ist. Benjamin Bell hat zwei Kinder und lebt in Berlin.

Diagnose: Fehlendes Selbstbewusstsein


In der Hierarchie des gesellschaftlichen Ansehens steht der Beruf der Erzieherin weit unten. Wer in der oberen Liga mitspielen möchte, wird Rechtsanwalt, Arzt, Manager, Universitätsprofessor, Filmemacher oder wählt einen anderen angesehenen Beruf. Erzieherin, so der verbreitete Irrglaube, wird, wer nichts Besonderes kann, denn erziehen kann jeder.

Gut, dass sich selbstlose Frauen finden, die sich mit diesem Beruf zufriedengeben, denn sie werden gebraucht. Schließlich muss jemand auf den Nachwuchs aufpassen, während man die Brötchen verdient …

Das sei übertrieben? Weit gefehlt, man muss sich nur einmal entsprechende Internetforen ansehen, dort wird kein Blatt vor den Mund genommen. Anstatt mit den Erzieherinnen offen zu sprechen, wird dort hemmungslos gelästert, teilweise werden die Erzieherinnen sogar namentlich genannt. Abgesehen davon, dass dies keine Art ist, miteinander umzugehen und Kritik auf diese Weise indiskutabel ist, wird auch immer wieder übersehen, dass es nicht jedem Menschen gegeben ist, die großartigen Entwicklungsschritte Heranwachsender zu erkennen und zu würdigen. Nicht jeder verfügt über das nötige Wissen, die nötige Geduld und Empathie – auch nicht jede Erzieherin.

Doch unsere Gesellschaft hat sich noch nicht einmal entschieden, was die Erzieherinnen nun wirklich sind: Aufpasserinnen in Kinderbewahranstalten – Kinderobvang heißen tatsächlich einige Kinderbetreuungseinrichtungen in den Niederlanden –, oder sind sie Lehrerinnen für die Jüngsten, wie die schwedische Berufsbezeichnung »Vorschullehrer« suggeriert?

Zwar hat der deutsche Kindergarten vor einigen Jahren einen Bildungsauftrag erhalten, aber in den Köpfen der meisten Menschen ist das noch nicht angekommen. Sie respektieren den Erzieherinnenberuf vor allem, weil es so anstrengend ist, seine Zeit mit Kindern zu verbringen – und dann auch noch mit vielen. »Mit Tschingderassa und Bum Bum Bum, ziehn wir im Kreis herum …« – solchen Kinderkram können nur Erzieherinnen den ganzen Tag lang aushalten. »Kinderquatsch mit Kati« möchte man zu Hause nicht haben. Und dann das Gewusel, der Lärm und die Unordnung! Kinderhorden toben auf dem Gartengelände so geräuschvoll herum, dass die Nachbarn die Fenster schließen. Dazwischen eine Erzieherin, die gleichzeitig Streit schlichten, Wunden versorgen, Puppen reparieren und Windeln wechseln kann.

So stellen sich ernsthafte Erwachsene den Kindergartenalltag vor und staunen allenfalls über das schier unverwüstliche Nervenkostüm der Erzieherin und ihr breites Repertoire an Kinderliedern. Beides wundersame Fähigkeiten, über die dem Volksglauben nach alle Erzieherinnen verfügen.

Es lohnt sich, einen Blick in die jüngere Geschichte zu werfen, um zu verstehen, woher dieses ambivalente Berufsbild stammt.

Zweihundert Jahre Erzieherinnenberuf – ein Rückblick


Die mit dem Zeitalter der Industrialisierung über die kleinen Leute hereinbrechende Not brachte es mit sich, dass sie ihre Kinder betreuen lassen mussten, um den Lebensunterhalt für die Familie zu sichern. Der Vorläufer des Kindergartens verstand sich als soziale Einrichtung, die die Kinder vor Verwahrlosung retten wollte. Ordensschwestern, Hauslehrerinnen ohne Stellung und berufslose Frauen sorgten dafür, dass die Kinder der zunehmend verelenden Unterschicht halbwegs unversehrt aufwachsen konnten.[13]

Der Gedanke, dass die Betreuung und Bildung von Kindern eine gesellschaftliche Aufgabe ist, kam erst mit Friedrich Fröbel auf, der Mitte des19. Jahrhunderts den ersten Kindergarten eröffnete und damit ein Bewusstsein für die Notwendigkeit pädagogischer Bildung schuf. Ihm ist es zu danken, dass erstmals Kindergärtnerinnen in der »Anstalt für allseitige Lebenseignung durch entwickelnd-erziehende Menschenbildung« ausgebildet wurden. Fröbel wusste, dass eben nicht jeder Kinder erziehen kann. In seinen Kindergärtnerinnen-Seminaren wollte er Frauen dafür qualifizieren, Kinder in ihrer Entwicklung adäquat zu begleiten und zu bilden.

In der Weimarer Republik gab es zahlreiche pädagogische Neuansätze zur Professionalisierung des Kindergartenpersonals. Während der Zeit des Nationalsozialismus drängte sich der Staat zunehmend in die Familien, was mit ein Grund war, warum man nach dem Krieg seine Kinder selbst erzog. Im westlichen Teil Deutschlands sorgte aber auch besonders das Wirtschaftswunder dafür. Jeder