Freitag, 7. November 2008
Tobias schlug die Augen auf und war für einen Augenblick verwirrt. Statt der weiß getünchten Decke seiner Zelle strahlte ihm Pamela Anderson von einem Poster entgegen. Erst da begriff er, dass er sich nicht mehr im Knast, sondern in seinem alten Zimmer im Haus seiner Eltern befand. Ohne sich zu regen lag er da und lauschte auf die Geräusche, die durch das schräggestellte Fenster drangen. Sechs Schläge der Kirchturmglocke verkündeten die frühe Uhrzeit, irgendwo bellte ein Hund, ein anderer fiel ein, dann verstummten beide wieder. Das Zimmer war unverändert: der Schreibtisch und das Bücherregal aus billigem Furnierholz, der Schrank mit der schiefen Tür. Die Poster von Eintracht Frankfurt, Pamela Anderson und Damon Hill im Williams Renault, der1996 die Formel-1-Weltmeisterschaft gewonnen hatte. Die kleine Stereoanlage, die er im März1997 von seinen Eltern bekommen hatte. Das rote Sofa, auf dem er … Tobias richtete sich auf und schüttelte unwillig den Kopf. Im Gefängnis hatte er seine Gedanken besser unter Kontrolle gehabt. Jetzt holten ihn die quälenden Überlegungen ein: Was wäre damals geschehen, wenn Stefanie nicht an jenem Abend mit ihm Schluss gemacht hätte? Würde sie heute noch leben? Er wusste, was er getan hatte. Das hatten sie ihm schließlich Hunderte Male erklärt – erst die Polizei, dann sein Anwalt, der Staatsanwalt und die Richterin. Es war schlüssig gewesen, es gab Indizien, es gab Zeugen, es gab das Blut in seinem Zimmer, an seiner Kleidung, in seinem Auto. Und doch fehlten in seiner Erinnerung volle zwei Stunden. Bis heute war da nichts als ein schwarzes Loch.
Er konnte sich genau an den6. September1997 erinnern. Der geplante Kerbeumzug war ausgefallen, aus Pietät, denn in London wurde an jenem späten Vormittag Prinzessin Diana zu Grabe getragen. Die halbe Welt hatte vor den Fernsehern gesessen und dabei zugesehen, wie der Sarg mit Englands tödlich verunglückter Rose durch die Straßen der englischen Hauptstadt gefahren wurde. Die ganze Kerb hatte man in Altenhain dennoch nicht ausfallen lassen wollen. Wären sie doch nur besser abends alle zu Hause geblieben!
Tobias seufzte und drehte sich auf die Seite. Es war so still, dass er seinen Herzschlag hören konnte. Für einen Moment gab er sich der Illusion hin, er wäre wieder zwanzig und das alles nicht passiert. Sein Studienplatz wartete in München auf ihn. Mit seinem Notendurchschnitt von1,1 beim Abitur hatte er ihn ohne Probleme bekommen. In die glücklichen Erinnerungen mischten sich wieder schmerzliche. Auf der ausgelassenen Abifeier auf dem Gartengrundstück eines Klassenkameraden in Schneidhain hatte er Stefanie das erste Mal geküsst. Laura war vor Zorn beinahe geplatzt und hatte sich vor seinen Augen Lars an den Hals geworfen, um ihn eifersüchtig zu machen. Aber wie hatte er noch an Laura denken können, wenn er Stefanie im Arm hielt! Sie war das erste Mädchen, um das er sich wirklich hatte bemühen müssen. Das war eine gänzlich neue Erfahrung für ihn gewesen, liefen ihm die Mädchen üblicherweise doch, sehr zum Missfallen seiner Kumpels, in Scharen nach. Wochenlang hatte er um Stefanie geworben, bis sie ihn endlich erhört hatte. Die folgenden vier Wochen waren die glücklichsten seines Lebens gewesen – bis zur Ernüchterung am6. September. Stefanie war zur Miss Kerb gekürt worden, ein alberner Titel, auf den eigentlich seit Jahren Laura abonniert gewesen war. Diesmal hatte Stefanie sie ausgestoche