GLASS
Eines nasskalten Aprilmorgens bestieg Glass, die linke Hand am Griff ihres Koffers aus abgewetztem Lederimitat, die rechte am Geländer einer wackeligen Gangway, einen Ozeanriesen, der im Hafen von Boston zum Auslaufen nach Europa bereitlag. Menschen wimmelten über den Pier, Wasser schlug aufgebracht gegen die Kaimauer. In der Luft hing ein stechender, übelkeiterregender Gestank, eine Mischung von verbranntem Teer und faulendem Fisch. Glass legte den Kopf in den Nacken und betrachtete mit zusammengekniffenen Augen die dickbauchigen Wolkenbänke, die sich über der Küste von Massachusetts stapelten. Nieselregen jagte gegen den dünnen Mantel, der ihre unmöglich mageren Beine umschlackerte. Sie war siebzehn Jahre alt und im neunten Monat schwanger.
Abschiedsrufe erklangen, weiße Taschentücher flatterten im Wind, Motoren erwachten zum Leben. Inmitten der wogenden Menschenmenge, die sich am Pier versammelt hatte, um Verwandten und Bekannten Lebewohl zu winken, stand ein Kind. Lachend erhob es eine Hand und deutete in den grauen Himmel. Hoch oben, auf salzigem Wind, tanzten Möwen wie die Papierfetzen bei einer Parade zur Feier des Unabhängigkeitstages. Die unschuldige Geste rührte Glass und reichte beinahe aus, ihren Entschluss, Amerika zu verlassen, ins Wanken zu bringen. Doch plötzlich hatte der Dampfer es eilig. Mit einem wehmütigen Tuten legte er ab und ließ den Hafen hinter sich. Sein Bug drückte tief ins Wasser. Glass wandte dem Festland den Rücken zu. Sie schaute nie zurück.
In den folgenden Tagen sahen die anderen Passagiere das Mädchen am Bug des stampfenden Schiffes stehen, den grotesk angeschwollenen Bauch gegen die Reling gepresst, den Blick unverwandt auf das Meer gerichtet. Glass hielt den neugierigen Blicken und dem Flüstern der Menschen trotzig stand. Niemand wagte es, sie anzusprechen.
Eine Woche nachdem sie Amerika für immer hinter sich gelassen hatte, spürte Glass auf der Zunge den Geschmack von salzigem Tang; am Mittag des achten Tages betrat sie die Alte Welt. Noch Stunden später hatte Glass das Gefühl, der Boden schwanke unter ihren Füßen. Vom Schiff aus hatte sie Stella mehrfach telegrafiert, dass sie auf dem Weg nach Visible sei, wo sie auf unbestimmte Zeit bleiben wolle. Ihre ältere Schwester, die sie zuletzt als kleines Mädchen gesehen hatte, deren letzter Brief aber keine vier Wochen alt war, hatte keine Antwort zurückgekabelt. Das war nicht zu ändern. Glass hatte nicht Tausende von Seemeilen hinter sich gebracht, um jetzt unverrichteter Dinge und hochschwanger wieder umzukehren.
Es dauerte den verbleibenden Tag und eine halbe Nacht, um den Rest der nach Süden führenden Strecke mit der Eisenbahn zurückzulegen – in Zügen, die immer kürzer, immer unbequemer und immer langsamer wurden. Nichts an der Landschaft, die da draußen an ihr vorbeizog, erinnerte Glass an Amerika. In Amerika war der Himmel weit, der Horizont endlos, bestenfalls begrenzt von beinahe unüberwindlichen, verschneiten Gebirgsketten, und die Flüsse waren träge, uferlose Ströme. Hier aber schien das Land zu schrumpfen, je weiter man sich von der Küste entfernte. So weit das Auge reichte, hatte alles – die mit Schnee überzuckerten Wälder, die froststarren Hügel und Berge sowie die dazwischen liegenden Dörfer und Städte – die überschaubaren Maße einer Spielzeuglandschaft, und selbst die breitesten Flüsse schienen in ihrem Lauf gezähmt. Nach dem letzten Umsteigen saß Glass, die Hände auf dem Bauch gefaltet, allein in ihrem überheizten Abteil, starrte müde zum Fenster hinaus in die tintenschwarze Nacht und überlegte, ob sie den richtigen Schritt getan hatte. Schließlich fiel sie in unruhigen Schlaf. Im Traum sah sie einen unscheinbar braunen Vogel, der von einem gewaltigen Adler mit gol