: Jan-Dirk Müller
: Mediävistische Kulturwissenschaft Ausgewählte Studien
: Walter de Gruyter GmbH& Co.KG
: 9783110230956
: 1
: CHF 126.50
:
: Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft
: German
: 316
: Wasserzeichen/DRM
: PC/MAC/eReader/Tablet
: PDF
< >This book examines vernacular literary texts of the Middle Ages and the Early Modern Age from a cultural studies perspective, focusing on the context of their origin and effect, their media preconditions, their concepts of cultural systems and the discussion and transformation of social norms. A wide spectrum of texts is covered from the 12th to the 16th centuries including the heroic epic, novellas, religious drama, satire and the encyclopedia. The starting point and objective of this book are to understand the literary text as a medium to reflect cultural configurations.



Jan-Dirk Müller, Ludwig-Maximilians-Universit& 228;t München.

Mimesis und Ritual (S. 135-136)

Dass das Geistliche Spiel nicht in den Kategorien theatrali scher Mimesis beschrieben werden kann, ist eine Binsenweisheit. Weit weniger einig ist man sich, welchen Status und welche Funk tion man ihm zuzuschreiben hat. Ein Großteil der Spätmittelalterforschung hat sich mit der Formel beruhigt, das Spiel diene der religiösen Verkündigung: der memoria des Heilsgeschehens, der Belehrungüber bestimmte Glaubensinhalte und der Erweckung von compassio, emotionaler Anteilnahme am Leiden Jesu. So scheinen es die Verfasser der Spiele beabsichtigt zu haben, und so werden sie von ihren Apologeten gerechtfertigt. Daher kommt es, dass Rainer Warnings Buch von 1974, das einer solchen Lesart entschieden widersprach, in der germanistischen Forschung zu mindest hauptsächlich Abwehrreflexe auslöste– sofern man sichüberhaupt dem Anspruch seiner Thesen stellte–, so dass Warning sich 1995 noch einmal veranlasst sah, vor den»her meneutischen Fallen« zu warnen, in die der moderne Interpret tappt, wenn er sich mit den beruhigenden Formeln der Belehrung und Erbau ung durch die Spiele zufrieden gibt. Meist verlässt man sich nämlich auf den religiösen Rahmen der Darstellung, das heilsgeschichtliche Geschehen, durch das nach Meinung der Interpreten burleske wie schockierende Aktionen, die Obszönitäten des Salbenkaufs wie die Grausamkeiten bei der Folter schon in die›richtige‹ religiöse Perspektive gerückt werden. Nicht beachtet wurde meist, dass solche›Rahmungen‹ ebenso gut nur der Lizenzierung des andernfalls Verbotenen dienen können, so dass sich unter ihrem Schutz abweichende Intentionen ausagieren können, ein Umstand, der der Massenpsychologie geläufig ist. Dass solch ein Umkippen tatsächlich stattfand, ist zwar vom Textderüberlieferten Spiele her nicht beweisbar, wird aber durch Berichte von Aufführungen dokumentiert, die vom Bruch des sakralen Zusammenhangs erzählen.

Warning hatte– verein facht gesprochen– die Spiele und ihren Verkündigungsanspruch am theologischen Kerygma gemessen und ihren uneingestandenen Rückfall in den Mythos betont. Unter der Oberfläche der Darstellung des Passionsgeschehens z. B. liege ein archaisches Sündenbockritual verborgen, in dem die Erlösung am Kreuz nur Deckmantel für die Aggression gegen das Lamm Gottes sei, das blutig geopfert werde. Das unblutige Opfer der Eucharistie werde in den (theologischüberwundenen) mythischen Ursprung des Blutopfers zurückgespielt. Spuren jener dementierten eigentlichen Funktion zeigten sich auf der Textoberfläche in den bis zum Exzess getriebenen, dabei kunstvoll rhythmisierten und rituell geformten Worten und Aktionen der Folterung.

WarningsÜberlegungen werfen fundamentale Probleme spät mittelalterlicher Frömmigkeit wie auch spätmittelalterlicher Theatralität auf. Ich möchte an sie anknüpfen und sie in Beziehung setzen zu einigen Einwänden, die gegen sie erhoben wurden. Mein Ziel ist es zu zeigen, wie in der Tat die Spiele den durch Liturgie und Verkündigung gesetzten Rahmen zu sprengen drohen, andererseits aber immer wieder Strategien entwickelt werden, sie in den Kontext von Liturgie und Verkündigung zurückzuspielen. Dies beruht auf ihrem ambivalenten Status zwischen– schlagwort artig verkürzt:–›Kult‹ und›Theater‹. Indem Warning zuerst ihre kultische Unbedenklichkeit vor dem Hintergrund der elaborierten Theologie in Frage gestellt hatte, rückte er dieses für eine Genealogie literarischer Formen zentrale Problem in den Blick: eine Freisetzung der Imagination aus rituellen Vollzügen. Bevor ich dieseÜberlegungen anüberlieferten Textenüberprüfe, möchte ich einige Prämissen nennen, von denen ich ausgehe.

Vorwort6
Inhaltsverzeichnis8
Überlegungen zu einer mediävistischen Kulturwissenschaft10
Aufführung – Autor – Werk. Zu einigen blinden Stellen gegenwärtiger Diskussion20
Literarischer Text und kultureller Text in der Frühen Neuzeit. Am Beispiel des ›Narrenschiffs‹ von Sebastian Brant36
Der Widerspenstigen Zähmung54
Die Fiktion höfi scher Liebe und die Fiktionalität des Minnesangs. Zum Verhältnis von Liedkunst und Lebenskunst74
Literarische und andere Spiele. Zum Fiktionalitätsproblem in vormoderner Literatur92
Kultur wissenschaft historisch. Zum Verhältnis von Ritual und Theater im späten Mittelalter120
Mimesis und Ritual144
Realpräsenz und Repräsentation. Theatrale Frömmigkeit und Geistliches Spiel170
Verabschiedung des Mythos. Zur Hagen-Episode der ›Kudrun‹192
Die hovezuht und ihr Preis. Zum Problem höfi scher Verhaltensregulierung in Ps.-Konrads ›Halber Birne‹214
Kleine Katastrophen. Zum Verhältnis von Fehltritt und Sanktion in der höfi schen Litera tur des deutschen Mittelalters238
Visualität, Geste, Schrift. Zu einem neuen Untersuchungsfeld der Mediävistik262
Wissen ohne Subjekt? Zu den Ausgaben von Gesners ›Bibliotheca universalis‹ im 16. Jahrhundert276
Nachweise294
Gesamtverzeichnis verwendeter Literatur296