: Veit Heinichen
: Die Ruhe des Stärkeren Roman
: Paul Zsolnay Verlag
: 9783552054691
: 1
: CHF 7.80
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: Krimis, Thriller, Spionage
: German
: 320
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Als Commissario Proteo Laurenti nachts von einer EU-Sicherheitskonferenz nach Triest zurückkehrt, wird im selben Zug der Tierpräparator Marzio Manfredi ermordet. Die Ermittlungen belasten Laurenti zusätzlich, denn die Zeremonie zur Erweiterung der Schengen-Zone erfordert seine ganze Konzentration. Eine vermutlich rechtsradikale Gruppe, die gegen Grundstücksspekulation im großen Stil entlang der Adriaküste protestiert, hat gegen einen Teilnehmer des Festakts Morddrohungen ausgesprochen. Es handelt sich um den am internationalen Geldmarkt tätigen Spekulanten Goran Newman, dessen Sohn Sedem wiederum sich ausgerechnet in Laurentis Assistentin Pina Cardareto verliebt, die auf diese Weise ungeplant Einblick in ein Zentrum der modernen Wirtschaftskriminalität erhält. Im sechsten Kriminalroman von Veit Heinichen über die dunklen Machenschaften in der Grenzregion um die Hafenstadt Triest geht es um viel Geld und die politisch-wirtschaftlichen Veränderungen in Europa.

Veit Heinichen wurde 1957 zwischen Bodensee und Schwarzwald geboren. Nach dem Studium der Betriebswirtschaft und einem kurzen Abstecher in die Automobilindustrie arbeitete er als Buchhändler und anschließend für namhafte Verlage in der Schweiz und in Deutschland. 1994 war er Mitbegründer des Berlin Verlags und dessen Geschäftsführer bis 1999. Nach Triest, die Stadt, die seine zukünftige Heimat werden sollte, kam Heinichen erstmals 1980. Und hier erweckte er auch Commissario Proteo Laurenti zum Leben, der nun in bislang sieben Romanen (Gib jedem seinen eigenen Tod, 2001; Die Toten vom Karst, 2002; Tod auf der Warteliste, 2003; Der Tod wirft lange Schatten, 2005; Totentanz, 2007; Die Ruhe des Stärkeren, 2009; Keine Frage des Geschmacks, 2011, Im eigenen Schatten, 2013, alle im Paul Zsolnay Verlag) den Verbrechern in der Stadt am Karst auf der Spur ist. Seine Krimis werden in das Italienische, Niederländische, Spanische, Französische, Slowenische, Griechische, Tschechische,Polnische und Norwegische übersetzt. Die Toten vom Karst und Tod auf der Warteliste wurden bei der Vergabe des Premio Franceo Fedeli in Bologna 2003 und 2004 zu den drei besten italienischen Kriminalromanen des Jahres gewählt. Im September 2005 erhielt Veit Heinichen zudem den Radio-Bremen-Krimipreis für seine 'feinfühlige, unterhaltsame und genaue Erforschung der historisch-politischen Verflechtungen, die Triest als Schauplatz mitteleuropäischer Kultur kennzeichnen' (Begründung der Jury). 2010 wurde Die Ruhe des Stärken bei der Vergabe des Premio Azzercagarbugli als bester fremdsprachiger Roman ausgezeichnet, 2011 erhielt Veit Heinichen den 13. Internationalen Literaturpreis Città die Trieste, 2012 wurde er für sein schriftstellerisches Schaffen mit dem Gran Premio Noè ausgezeichnet. Neben seinem literarischen Schaffen ist er Autor kulturhistorischer Beiträge und, zusammen mit der Triestiner Starköchin Ami Scabar, Verfasser des kulturgeschichtlich-kulinaris hen Reisebuchs Triest - Stadt der Winde (2005, Sanssouci im Carl Hanser Verlag). Der 90minütige Dokumentarfilm Le lunghe ombre della morte, den Veit Heinichen zusammen mit Regisseur Giampaolo Penco drehte, dokumentiert den Hintergrund seines vierten Kriminalromans Der Tod wirft lange Schatten und wurde im Dezember 2005 vom italienischen Staatsfernsehen RAI ausgestrahlt. Fünf seiner Kriminalromane wurden mit Henry Hübchen als Commissario Laurenti und Barbara Rudnik als dessen Frau Laura für die ARD verfilmt. Im Juli 2008 präsentierte Veit Heinichen in einer Folge der 3sat-Reihe Inter-City spezial 'sein' Triest. 'Der Kriminalroman ist ein ideales Mittel, um die moderne Gesellschaft abzubilden', so Veit Heinichen. 'Die Neurosen einer Epoche und eines Raumes kommen im Roman am stärksten zum Ausdruck. Triest, die Hafen- und Grenzstadt am nördlichen Golf der Adria, ist Schnittstelle zwischen romanischer, slawischer und germanischer Kultur, hier begegnen sich die mediterrane Welt und die des Nordens, Osteuropa und der Balkan treffen auf Westeuropa, sowie die 'geistigen Formationen' Meer und Berg. Eine Stadt voller Kontraste, Gegensätze, Widersprüche und der Brücken zwischen diesen. Triest ist, wie Le Monde schrieb, der Prototyp der europäischen Stadt - und eine Fundgrube für denjenigen, der begreifen will, wie dieses Europa funktioniert.'

Pina in Panik


Das Keuchen kam rasch näher. Zuerst hatte sie dem Geräusch keine Beachtung geschenkt, doch jetzt warf sie erschrocken einen Blick über die Schulter. Mit wild gefletschten Zähnen näherte sich ein kraftstrotzender, braunweiß-gescheckter Köter und würde sie in Kürze einholen. Freundlich sah das Tier nicht aus mit seinen hochgezogenen Lefzen, unter denen das rote Zahnfleisch und ein kräftiges weißes Gebiß leuchteten. Noch hundert Meter, und es würde zum Sprung ansetzen. Panisch trat sie in die Pedale und versuchte, Abstand zu gewinnen, die Straße war kurvig, und wo sie dem Asphalt folgen und dagegen ankämpfen mußte, mit dem Fahrrad im Graben zu landen, hielt das Tier schnurstracks auf sie zu. Weit unten im Tal sah sie die roten Ziegeldächer einer kleinen Ortschaft unter der Dezembersonne glänzen, bis dorthin würde sie es kaum schaffen. Der Hund jagte ihr nach wie einem Kaninchen, als hätte ihn jemand auf sie angesetzt, um sie auf Teufel komm raus zu Fall zu bringen und zu zerfleischen. Endlich erblickte sie auf einer Wiese eine Miete mit Heuballen, für die der Bauer wohl keinen Platz mehr in der Scheune gefunden hatte und sie deshalb unter einer weißen Plastikplane im Freien lagerte. Pina hielt direkt darauf zu, sprang vom Rad und versuchte auf dem glitschigen Kunststoff hinaufzuklettern. Für den Bruchteil einer Sekunde verklang das Keuchen hinter ihr, dann war auf einen Schlag ihr linker Fuß blockiert, stechender Schmerz durchfuhr sie und ein schweres Gewicht hing an ihr, das sie zu Boden zu ziehen versuchte. Mit wütendem Knurren hatte sich der Hund in ihren Schuh verbissen und hing einen Meter über dem Boden, seine Pfoten kratzten auf der Plane. Sie trat mit dem freien Bein nach ihm, doch in dieser Position erwischte sie das Vieh nicht. Unter Einsatz ihrer letzten Kraft konnte sie sich noch ein Stück emporziehen und festen Halt finden an einem Seil, das die Plane fixierte. Wieder trat sie vergeblich nach dem Hund. Eine aussichtslose Situation. Wo kam das Tier her, und wie lange würde es durchhalten? Was war das für eine Rasse? Ein Pitbull, eine argentinische Dogge, ein Mastino Napolitano? Pina konnte Hunde nicht ausstehen und hatte sich stets verweigert, sie auseinanderzuhalten. Dieser hing an ihr wie ein Zappelsack, knurrte wütend und hatte einen Biß wie ein Schraubstock. Seine Reißzähne waren durch das Leder des Sportschuhs gedrungen, Pinas Ferse glühte vor Schmerz. Wenn sie wenigstens den Schuh abstreifen könnte, um dieses blindwütige Tier loszuwerden, das von ihrem Blut, das aus dem Leder tropfte, offensichtlich noch wilder wurde.

Sie hatte keine Wahl, nichts half ihr, außer aus Leibeskräften zu schreien. Während ihrer Ausbildung hatte sie gelernt, daß man in solchen Situationen mit der Stimme am meisten erreichte, doch die aus voller Kehle gebrüllte Haßtirade, mit der sie ihren vierbeinigen Feind bedachte, schien den nicht weiter zu beeindrucken. Nie hätte sie sich träumen lassen, einmal in eine Lage zu geraten, in der ihr all ihre Kenntnisse der härtesten Kampfsportarten so wenig nützten wie ihr durchtrainierter Körper und ihr blitzschnelles Reaktionsvermögen. Sie brüllte wie am Spieß und hoffte, daß schnell jemand auf sie aufmerksam würde. Der Hund ließ keine Sekunde nach. Endlich gelang es ihr, sich mit einem Ruck herumzuwerfen und auf den Rücken zu drehen, um mehr Bewegungsfreiheit zu bekommen und das Bein anzuwinkeln. Und endlich konnte sie mit dem rechten Fuß einen gezielten Tritt ausführen, der in seiner ganzen Härte die Schnauze des Tiers traf, dessen Oberkieferknochen krachte. Es fiel, ohne den geringsten Laut von sich zu geben, auf die Wiese, taumelte einen Augenblick um die eigene Achse, setzte dann aber sofort wieder zum Sprung an, als fühlte es keinen Schmerz. Doch Pina war fürs erste in Sicherheit. Mit laut klopfendem Herzen sah sie den Hund an, der nur darauf zu warten schien, daß sie von ihrem erhöhten Sitz heruntersteigen würde.

Von der Ortschaft im Tal drang vor dem Neun-Uhr-Schlag der Klang der Kirchenglocken herauf, der die Gemeinde zum Sonntagsgottesdienst rief. Pina riß den Reißverschluß ihrer Gürteltasche auf und kramte nach ihrem Mobiltelefon. Aus der Ferne vernahm sie einen Pfiff, der sie für einen Moment ablenkte. Und als sie ihrem Peiniger wieder ins Auge blicken wollte, war sein Platz plötzlich leer. Der Hund war wie vom Erdboden verschluckt.

 

*

 

Wie jeden Sonntagmorgen, an dem es nicht regnete und sie keinen Dienst hatte, war Giuseppina Cardareto zu einer Fahrradtour aufgebrochen. Und wie immer sonntags, war sie früher als unter der Woche aufgestanden, obgleich es erst zaghaft zu dämmern begann. Wenn sie um sieben Uhr im Sattel saß, dann könnte sie bis Mittag an die einhundertfünfzig Kilometer schaffen, hunderttausendmal ihre Körpergröße. Den Anstieg von ihrer Wohnung im Stadtzentrum Triests, also von Meereshöhe auf den Karst hinauf, wählte sie stets neu. Je nachdem, ob sie sich mehr oder minder in Form fühlte, fielen die Anfangsstrapazen aus. Die Küstenstraße – entlang der jäh ins Meer abfallenden Felsen –, auf der alle unterwegs waren, forderte sie nicht genug. An diesem Morgen im Dezember wähnte Pina sich stärker als Popeye. Den steilen Anstieg der Via Commerciale machte ihr ohnehin kaum einer nach, erst danach, weiter hinauf nach Conconello, an den rot-weiß lackierten Antennenmasten der Mobilfunksender vorbei, begann die Tortur. Ohne abzusteigen, mit hechelndem Atem und schweißüberströmt, kam sie Meter für Meter voran. Mehrfach haderte sie mit sich, doch ihr eiserner Wille obsiegte, und nachdem sie schließlich die vierhundertfünfzig Höhenmeter geschafft hatte, strich der Fahrtwind beim Hinabgleiten nach Banne und weiter Richtung Basovizza ihr angenehm übers Gesicht. Den Grenzübergang nach Lipizza durchfuhr sie ohne anzuhalten. Vor Sportlern hatten die Zöllner auf beiden Seiten Respekt – oder Mitleid.

Drei Jahre war die kleinwüchsige Inspektorin kalabresischer Herkunft inzwischen in Triest und konnte kaum mehr einen Ausflug unternehmen, ohne an Orten vorbeizukommen, an die sie meist mit dem Dienstwagen gefahren war, begleitet vom Geheul der Sirene. Und das, obwohl in der Stadt für ehrgeizige Kriminalisten mit Karriereabsichten meist wenig zu tun war. Gewiß, eine kühl inszenierte Einbruchserie in die Villen der Oberschicht dominierte seit geraumer Zeit die Titelseiten der Tageszeitungen, und der erneute, besorgniserregende Anstieg illegaler Einwanderung bereitete Kopfzerbrechen, doch Ermittlungen in Mordsachen ließen nach Pinas Geschmack zu wünschen übrig. Hier geschahen große Dinge hinter den Kulissen, die kaum einer zu