Das Keuchen kam rasch näher. Zuerst hatte sie dem Geräusch keine Beachtung geschenkt, doch jetzt warf sie erschrocken einen Blick über die Schulter. Mit wild gefletschten Zähnen näherte sich ein kraftstrotzender, braunweiß-gescheckter Köter und würde sie in Kürze einholen. Freundlich sah das Tier nicht aus mit seinen hochgezogenen Lefzen, unter denen das rote Zahnfleisch und ein kräftiges weißes Gebiß leuchteten. Noch hundert Meter, und es würde zum Sprung ansetzen. Panisch trat sie in die Pedale und versuchte, Abstand zu gewinnen, die Straße war kurvig, und wo sie dem Asphalt folgen und dagegen ankämpfen mußte, mit dem Fahrrad im Graben zu landen, hielt das Tier schnurstracks auf sie zu. Weit unten im Tal sah sie die roten Ziegeldächer einer kleinen Ortschaft unter der Dezembersonne glänzen, bis dorthin würde sie es kaum schaffen. Der Hund jagte ihr nach wie einem Kaninchen, als hätte ihn jemand auf sie angesetzt, um sie auf Teufel komm raus zu Fall zu bringen und zu zerfleischen. Endlich erblickte sie auf einer Wiese eine Miete mit Heuballen, für die der Bauer wohl keinen Platz mehr in der Scheune gefunden hatte und sie deshalb unter einer weißen Plastikplane im Freien lagerte. Pina hielt direkt darauf zu, sprang vom Rad und versuchte auf dem glitschigen Kunststoff hinaufzuklettern. Für den Bruchteil einer Sekunde verklang das Keuchen hinter ihr, dann war auf einen Schlag ihr linker Fuß blockiert, stechender Schmerz durchfuhr sie und ein schweres Gewicht hing an ihr, das sie zu Boden zu ziehen versuchte. Mit wütendem Knurren hatte sich der Hund in ihren Schuh verbissen und hing einen Meter über dem Boden, seine Pfoten kratzten auf der Plane. Sie trat mit dem freien Bein nach ihm, doch in dieser Position erwischte sie das Vieh nicht. Unter Einsatz ihrer letzten Kraft konnte sie sich noch ein Stück emporziehen und festen Halt finden an einem Seil, das die Plane fixierte. Wieder trat sie vergeblich nach dem Hund. Eine aussichtslose Situation. Wo kam das Tier her, und wie lange würde es durchhalten? Was war das für eine Rasse? Ein Pitbull, eine argentinische Dogge, ein Mastino Napolitano? Pina konnte Hunde nicht ausstehen und hatte sich stets verweigert, sie auseinanderzuhalten. Dieser hing an ihr wie ein Zappelsack, knurrte wütend und hatte einen Biß wie ein Schraubstock. Seine Reißzähne waren durch das Leder des Sportschuhs gedrungen, Pinas Ferse glühte vor Schmerz. Wenn sie wenigstens den Schuh abstreifen könnte, um dieses blindwütige Tier loszuwerden, das von ihrem Blut, das aus dem Leder tropfte, offensichtlich noch wilder wurde.
Sie hatte keine Wahl, nichts half ihr, außer aus Leibeskräften zu schreien. Während ihrer Ausbildung hatte sie gelernt, daß man in solchen Situationen mit der Stimme am meisten erreichte, doch die aus voller Kehle gebrüllte Haßtirade, mit der sie ihren vierbeinigen Feind bedachte, schien den nicht weiter zu beeindrucken. Nie hätte sie sich träumen lassen, einmal in eine Lage zu geraten, in der ihr all ihre Kenntnisse der härtesten Kampfsportarten so wenig nützten wie ihr durchtrainierter Körper und ihr blitzschnelles Reaktionsvermögen. Sie brüllte wie am Spieß und hoffte, daß schnell jemand auf sie aufmerksam würde. Der Hund ließ keine Sekunde nach. Endlich gelang es ihr, sich mit einem Ruck herumzuwerfen und auf den Rücken zu drehen, um mehr Bewegungsfreiheit zu bekommen und das Bein anzuwinkeln. Und endlich konnte sie mit dem rechten Fuß einen gezielten Tritt ausführen, der in seiner ganzen Härte die Schnauze des Tiers traf, dessen Oberkieferknochen krachte. Es fiel, ohne den geringsten Laut von sich zu geben, auf die Wiese, taumelte einen Augenblick um die eigene Achse, setzte dann aber sofort wieder zum Sprung an, als fühlte es keinen Schmerz. Doch Pina war fürs erste in Sicherheit. Mit laut klopfendem Herzen sah sie den Hund an, der nur darauf zu warten schien, daß sie von ihrem erhöhten Sitz heruntersteigen würde.
Von der Ortschaft im Tal drang vor dem Neun-Uhr-Schlag der Klang der Kirchenglocken herauf, der die Gemeinde zum Sonntagsgottesdienst rief. Pina riß den Reißverschluß ihrer Gürteltasche auf und kramte nach ihrem Mobiltelefon. Aus der Ferne vernahm sie einen Pfiff, der sie für einen Moment ablenkte. Und als sie ihrem Peiniger wieder ins Auge blicken wollte, war sein Platz plötzlich leer. Der Hund war wie vom Erdboden verschluckt.
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Wie jeden Sonntagmorgen, an dem es nicht regnete und sie keinen Dienst hatte, war Giuseppina Cardareto zu einer Fahrradtour aufgebrochen. Und wie immer sonntags, war sie früher als unter der Woche aufgestanden, obgleich es erst zaghaft zu dämmern begann. Wenn sie um sieben Uhr im Sattel saß, dann könnte sie bis Mittag an die einhundertfünfzig Kilometer schaffen, hunderttausendmal ihre Körpergröße. Den Anstieg von ihrer Wohnung im Stadtzentrum Triests, also von Meereshöhe auf den Karst hinauf, wählte sie stets neu. Je nachdem, ob sie sich mehr oder minder in Form fühlte, fielen die Anfangsstrapazen aus. Die Küstenstraße – entlang der jäh ins Meer abfallenden Felsen –, auf der alle unterwegs waren, forderte sie nicht genug. An diesem Morgen im Dezember wähnte Pina sich stärker als Popeye. Den steilen Anstieg der Via Commerciale machte ihr ohnehin kaum einer nach, erst danach, weiter hinauf nach Conconello, an den rot-weiß lackierten Antennenmasten der Mobilfunksender vorbei, begann die Tortur. Ohne abzusteigen, mit hechelndem Atem und schweißüberströmt, kam sie Meter für Meter voran. Mehrfach haderte sie mit sich, doch ihr eiserner Wille obsiegte, und nachdem sie schließlich die vierhundertfünfzig Höhenmeter geschafft hatte, strich der Fahrtwind beim Hinabgleiten nach Banne und weiter Richtung Basovizza ihr angenehm übers Gesicht. Den Grenzübergang nach Lipizza durchfuhr sie ohne anzuhalten. Vor Sportlern hatten die Zöllner auf beiden Seiten Respekt – oder Mitleid.
Drei Jahre war die kleinwüchsige Inspektorin kalabresischer Herkunft inzwischen in Triest und konnte kaum mehr einen Ausflug unternehmen, ohne an Orten vorbeizukommen, an die sie meist mit dem Dienstwagen gefahren war, begleitet vom Geheul der Sirene. Und das, obwohl in der Stadt für ehrgeizige Kriminalisten mit Karriereabsichten meist wenig zu tun war. Gewiß, eine kühl inszenierte Einbruchserie in die Villen der Oberschicht dominierte seit geraumer Zeit die Titelseiten der Tageszeitungen, und der erneute, besorgniserregende Anstieg illegaler Einwanderung bereitete Kopfzerbrechen, doch Ermittlungen in Mordsachen ließen nach Pinas Geschmack zu wünschen übrig. Hier geschahen große Dinge hinter den Kulissen, die kaum einer zu