4 Bildungstheoretische Rekonstruktion Lebenslangen Lernens (S. 119-120)
„Arbeiten aber heißt: unternehmen, etwas anderes zu denken, als man zuvor gedacht hat.“ (Foucault 1989, S. 15)
4.1 Entwicklung eines integrativen Interpretationsrahmens
Die hinter der Forschungsarbeit stehende Grundidee bestand darin, bisher dominierende Lesart(en) Lebenslangen Lernens im historischen Verlauf aufzuzeigen. Dies wurde unter Berücksichtigung der geschichtlichen Herkunft und der Sinngenese des Begriffs geleistet (vgl. Kap. 3): In den theoretischen Diskussionen der Erwachsenenbildung der 1960er Jahren ist die Fokussierung des Menschen zwischen den Antipoden Emanzipation und Anpassung auffallend. Nach der zunehmenden Orientierung des Subjekts an Anforderungen der Berufswelt in den 1970er Jahren wird in den 1980er Jahren der Versuch unternommen, den ganzen Menschen wieder in den Blick zu nehmen– wenngleich freilich die begonnene Tendenz der Untergrabung des Subjekts bestehen bleibt. In den 1990er Jahren wird diese Subversion verschärft, indem Biographien von Menschen als Kompetenzschablonen betrachtet werden. Diese Entwicklung wird durch eine gleichzeitige Zunahme der Individualisierung verstärkt.
Diese schlagwortartig zusammengefassten Perspektiven auf den lernenden Menschen zu jeweiligen Zeitphasen in der Wissenschaft der Erwachsenenbildung sind allerdings auf vielfältige Weise miteinander verwoben. Gemeinsames Desiderat ist jedoch, dass Lebenslanges Lernen sich im zeitlichen Verlauf zunehmend am Arbeitsmarkt ausgerichtet hat und unter dem Primat derökonomischen Verwertbarkeit betrachtet wird: Unter der Vorstellung vom Lebenslangen Lernen als Mittel der Entgrenzung von Arbeit und Lernen (vgl. Kap. 3.3.4.) gewinnt seit Mitte der 1990er Jahre die Form des Lernens an Bedeutung, die„auf einen bestimmten Handlungstypus, einen bestimmten Identitätsentwurf, eine bestimmte Form der Selbstmobilisierung innerhalb des marktförmigen Bildungsraums“ (Pongratz 2007, S.6) verweist: Damit rückt in die Erwachsenenbildung ein neuer Akteur ein, welcher„die Inhalte nicht mehr inhaltlich-material, sondernökonomisch auswählt. Solange der lernende Entrepreneur sein Bildungskapital verwerten kann, hat er richtig gewählt“ (Forneck 2005a, S. 325). Zwar wird das Subjekt als Angriffspunkt von Bildungs- und Qualifizierungsarbeit notwendigerweise stark fokussiert, allerdings um den Preis der Verzweckung und Selbstökonomisierung des Subjekts.
Um das Subjekt als Subjekt wieder in den Blick zu nehmen, sollen dieser Entwicklung gegenläufige Momente entgegengestellt werden. Zum Teil wurde dies bereits in der Diskussion im Kapitel 3 geleistet, wenn etwa an die Hessischen Blätter für Volksbildung 1966 gedacht wird. In deren Heft 1 (Grundfragen der Erwachsenenbildung: Politische Bildung) war eine an Arbeit und Leben orientierte Vorstellung Lebenslangen Lernens noch vorherrschend (vgl. Späth 1966, S. 10–13). Die folgende Erkenntnisarbeit wird daher historische Alternativen freilegen und eine subjektwissenschaftliche Perspektive eröffnen,„die der gegenwärtigen erziehungswissenschaftlichen Theorie zum Nachteil ihrer aufklärenden Funktion nicht präsent“ ist.„Diese Arbeit, nicht aufbewahrte theoretische Alternativen, verschüttete, nicht-erprobte und nicht-überprüfte Konjunkturen und Entwürfe sowie vergessene Elemente des umfassenden sozialen Wirkungsgefüges in die wissenschaftliche Welt zu re-integrieren, ist eine der kritischen Leistungen“ (Dräger 1985, S. 31) der vorliegenden Forschungsarbeit.
Die angestrebte Ausformulierung vergessener Dimensionen zielt daher vor allem auf eine bildungstheoretische Rekonstruktion Lebenslangen Lernens und darauf aufbauend auf das Anbieten eines integrativen, subjektwissenschaftlichen Interpretationsrahmens zur Auslegung dieses Grundbegriffs der Erwachsenenbildung. Mit der begriffsgeschichtlich und semantisch fundierten Kritik der heute dominierenden Denkungsart Lebenslangen Lernens wird ihr Fragehorizont erneuert. Die ungeheuere Vielfalt und Breite dessen, was im Lebenslangen Lernen an Ideen, Erwartungen und Ansätzen vorhanden ist, ohne dabei aber genauer zu bestimmen, was der Begriff eigentlich meint, impliziert das Verlangen nach der Formulierung einer integrativen und zugleich zukunftsweisenden Lesart. Ziel ist es, die unterschiedlichen Ansprüche und Bezugspunkte, die mit dem Lebenslangen Lernen in Verbindung gebracht werden, in eine theoretisch ausformulierte subjektwissenschaftliche Kartographie zu bringen. |