: Anne-Katrin Ebert
: Radelnde Nationen Die Geschichte des Fahrrads in Deutschland und den Niederlanden bis 1940
: Campus Verlag
: 9783593408606
: Campus Historische Studien
: 1
: CHF 48.00
:
: Kulturgeschichte
: German
: 495
: Wasserzeichen/DRM
: PC/MAC/eReader/Tablet
: PDF
Die Niederlande sind ein Fahrradland, Deutschland gilt eher als Land der Autobahnen. Wie es dazu kam, schildert Anne-Katrin Ebert in ihrer reichhaltigen Konsum- und Kulturgeschichte des Fahrrads. Mit dem Gebrauch des Fahrrads verband sich eine Fülle von Identitätskonstruktionen und sozialen Unterscheidungsmechanismen. Der menschliche Körper, das Verhältnis zwischen Männern und Frauen, Bürgerlichkeit und Arbeiterschaft sowie deutsche und niederländische Identität - das alles wurde auf und mit dem Fahrrad 'erfahren'. Die Affinität zum 'Drahtesel', so zeigt sich, ist mehr den sozialen und kulturellen Entwicklungen geschuldet als den geografischen Gegebenheiten.

Anne-Katrin Ebert, Dr. phil., ist Leiterin des Bereichs Verkehr am Technischen Museum Wien.

2. Eigensinn im Massenkonsum: Die Arbeiter-Radfahrer (S. 321-322)

Ab der Jahrhundertwende bröckelte das exklusive Recht auf das Radfahren in Deutschland und den Niederlanden. Ein immer größer werdender Personenkreis konnte sich die stetig fallenden Kosten eines Fahrrads leisten. Zusätzlich sorgten Sozialreformen ab den 1890er Jahren in beiden Ländern dafür, dass Arbeiter und Angestellte erstmalsüber geregelte Sonn- und Feiertage sowieüber Urlaub verfügten. Auf diese Weise wurde die Nutzung des Fahrrads, die in beiden Ländern vor der Jahrhundertwende im Wesentlichen auf den Freizeitbereich beschränkt war, auch Personenkreisen ermöglicht, die bisherüber weniger freie Zeit verfügt hatten. Kurzum, zu Beginn des 20. Jahrhunderts erodierte das bisherige, bürgerliche Distinktionsmuster beim Radfahren im Massenkonsum. Neue Unterscheidungen und Konsumpraktiken mussten an dessen Stelle treten.

Im Mittelpunkt dieses Kapitels stehen Arbeiterorganisationen in Deutschland und den Niederlanden, die sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Opposition zur bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsordnung konstituiert hatten. Wie machten sich die Arbeiter-Radfahrer das Massenkonsumgut Fahrrad zu eigen? Welche Werte und Praktiken verbanden sie mit dem Fahrrad und inwiefern unterschieden diese sich von den bisherigen bürgerlichen Praktiken? Erhielt der mit dem Fahrrad verbundene Emanzipationsprozess des bürgerlichen Individuums in Arbeiterkreisen eine neue Wendung? Wurde er den Arbeitern abgesprochen oder durch diese radikalisiert?

2.1 Die Anfänge des organisierten Arbeiter-Radfahrens

Am 2. August 1893 erschien im Berliner Volksblatt, der Beilage zum sozialdemokratischen Vorwärts, ein Aufruf an die»sozialdemokratischen Radfahrer Deutschlands«. Nach dem Vorbild der Arbeiter-, Gesangs-, Turn- und Vergnügungsvereine sollten sie einen»Verbandüber ganz Deutschland« bilden, der an verschiedenen Orten Filialen habe und»neben der Hebung des Radfahrsports« den Zwecke haben solle»uns [i.e. Radfahrer, A.E.] in den Dienst der Agitation zu stellen und uns der Partei und der Arbeiterbewegung soviel als möglich nützlich zu machen.« Am 1. und 2. Oktober 1893 beschloss in Leipzig eine Konferenz sozialdemokratischer Radfahrer die Gründung eines solchen Arbeiter-Radfahrerbundes.

Die Radfahrer lagen mit diesen Gründungsbemühungen voll im Trend. Mit der Nichtverlängerung des»Gesetzes gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie«, des sogenannten»Sozialistengesetzes«, das von 1878 bis 1890 die Bildung von Arbeitervereinen systematisch verhindert hatte, gründeten sich seit Beginn der 1890er Jahre zunehmend Arbeitervereine. Im Mai 1893 hoben die Arbeiter-Turner in Gera den»Deutschen Arbeiter-Turnerbund« aus der Taufe. Sie zählten damals bereitsüber 10.000 Mitglieder und sollten ihre Zahl kontinuierlich auf 186.958 Mitglieder im Jahr 1913 steigern.

Der Vorschlag zur Gründung eines Arbeiter-Radfahrerverbandes erntete jedoch nicht nur Beifall, sondern auch Kritik aus den eigenen Reihen. Eine Woche nach dem Kongress der Radfahrer in Leipzig prangerte der spätere bayerische Landtagsabgeordnete Johannes Timm in einem Artikel im Vorwärts unter dem Titel»Unfug« die»krankhafte Sucht« zur Gründung neuer sozialdemokratischer Vereine an und verurteilte namentlich die Bildung eines sozialdemokratischen Radfahrerverbands.

Inhalt6
Einleitung10
I. Ein Sport für den selbstbewussten Mann und die »Neue Frau«: Bürgerliches Radfahren gegen Ende des 19. Jahrhunderts30
1. Das Fahrrad und die Konstituierung einer bürgerlichen Radsportkultur32
1.1 Das Fahrrad, ein Spiel33
1.2 Das Konsumregister des Radfahrens: Vom Luxus des Spiels39
1.3 Der Sport als »korrekte Konsumtion« des Luxusguts Fahrrad42
1.4 Die soziale Zusammensetzung der Radsportclubs: Eine Bestandsaufnahme51
1.5 Fazit: Vom Luxus des Radsports54
2. Radfahren und die Erfahrung des modernen Individuums56
2.1 Das stählerne Ross und die Eisenbahn: Das Fahrrad im Kontext der Technik seiner Zeit58
2.2 Zwischen Hochrad und Niederrad: Fahrradkonstruktionen als Mittler63
2.3 Der Reiz der Kontrolle: Das Fahrrad, der Körper und die Nerven70
2.4 Das Fahrrad und die Optimierung der menschlichen Körpermaschine78
2.5 Fazit: Der selbstbewusste Radfahrer89
3. Die »Neue Frau« auf dem Fahrrad92
3.1 Rad fahrende Frauen in der Statistik: Der Versuch einer Bestandsaufnahme97
3.2 Begleiterin des männlichen Individuums: Die Radfahrerin und die bürgerliche Geschlechterordnung101
3.3 Tandem, Dreirad und Niederrad: Fahrradmodelle und Geschlechterrollen111
3.4 Medizinische Bedenken? Die Radfahrerin im Visier der Ärzte116