Das weiße Huhn
Mein Vater starb letzten August. Das ist jetzt bald vierzig Jahre her.
Der Tag war so heiß, dass die Vögel unter den Blättern blieben und alles ringsum sich verlangsamte. Wir dachten an die Hitze des Krankenzimmers, des Krankenbetts, in dem der inzwischen zu einem dünnen Herrn zusammengeschmolzene Mann seinen Tod erwartete. Dass es Regen geben solle, war das Thema auf den Fluren. Erst für den Abend wurde er erwartet, als er endlich fiel, war er der erste Regen, den mein Vater nicht mehr erleben sollte.
In München nahmen an diesem Tag ein paar Männer die Kunden und Angestellten einer Bank als Geiseln und verlangten500 000 Mark. Die Eilmeldungen im Radio überschlugen sich, dauernd gab es »neue Entwicklungen«, das Land blickte nach München. Wir nicht.
Mittags aß ich bei einem Freund, folgte aber dem Tisch gespräch nicht, bis ein Erwachsener eine längere Geschichte abschloss mit dem Seufzer:
»Unsere Familie wurde geboren, Gräber zu füllen.«
In die Pause, die folgte, schepperte das Gelächter, erst langsam, dann selbstbewusst. Man traute sich, die drastische Formulierung mit Ironie zu beantworten. Ein Aperçu war geboren. In die Pause, die diesem folgte, sagte ein anderer:
»So gesehen, dauert der Tod ein Leben lang.«
Die beiden Sätze standen unverbunden nebeneinander, und aus der Pause, die dann folgte, erhob sich kein Gelächter mehr.
Komische Art, sich zu unterhalten, war alles, was ich dachte.
In den Wochen davor war meine Mutter täglich ins Krankenhaus gefahren, einen Krebsbunker mit massiven Strahlungsapparaten, Kobalt Kabinen, dreißigjährigen Untoten auf den Fluren und diesem einen, nie mehr aufzulösenden Geruch. Nicht Kampfer, nicht Melisse roch so, unnatürlich, chemisch, strahlend roch es.
Die Gesichter der Patienten hatten etwas Unheilbares, sie trugen den Ausdruck offener Wunden im Gesicht und irrten herum auf der Suche nach einer Wunde, mit der sie hätten reden können. Wir Kinder hatten in diesem Augenblick das Leben vor uns, im Doppelsinn. »So ist das Leben« oder »Das Leben kann grausam sein«, sagten die Erwachsenen, das waren auch in Kinderohren keine besonders tiefsinnigen Sätze. Aber dass es immer ums Ganze ging, ängstigte uns, und so wurden zu unserem Schutz nur drei Krebsbunker Besuche pro Woche angesetzt.
Im Radio hörten wir das Wort »Geiseldrama« zum ersten Mal, und wir erfuhren auch noch, dass inzwischen zwei Menschen zu Tode gekommen waren. Eines der Opfer, eine schüchterne Bankangestellte, vielleicht auch erst eine Auszubildende, wirkte auf dem Porträtfoto in der Zeitung, als habe sie mit dem Gesicht, das zu ihrem Tod passte, schon länger gelebt.
Mein Vater lag im Sterben. Irgendjemand sagte, er habe jetzt seinen Geschmackssinn eingebüßt. Der sollte nicht wieder kehren. So war also der Tod über seinen Geschmackssinn in sein Leben gekommen.
Mein Vater lag im Sterben, ich dachte, dass selbst das an einem heißen Tag mühevoller ist, und ging in den Garten. Ganz hinten, wo ich mit zwölf Jahren versucht hatte, einen Zipfel Erde selbst zu bebauen, um es mit dreizehn wieder aufzugeben, irrte bei der Himbeerhecke ein weißes Huhn durch das hohe Gras, flatterte vom Boden auf, kam nicht über den Zaun, scheute die dornige Hecke und wusste nicht ein noch aus.
Ich ergriff also das Huhn mit beiden Händen, legte es, beschirmt von den Armen, an meine Brust und machte mich auf den Weg zu den umliegenden Bauernhöfen, den Besitzer des Tiers ausfindig zu machen. Das Huhn war ganz ruhig geworden, aber ich spürte den zerbrechlichen Brustkorb, die Wärme seines Blutes, das Schaudern, das über die Federn lief, ehe sie sich abrupt aufplusterten, und da alle Bauern über dem schneeweißen Tier die Köpfe schüttelten, lief ich weiter, bis hinab ins Unterdorf, und auf einer anderen Straße wieder aufwärts, bis ich auf halber Höhe an einen Hof kam, wo mir die Bäuerin freudestrahlend das Tor öffnete und das Huhn mit einem Schwall von Koseworten bedachte. Ich nahm es in beide Hände, legte es an den Busen der Bäuerin und ging heim