: Abtprimas Notker Wolf
: Worauf warten wir? Ketzerische Gedanken zu Deutschland
: Rowohlt Verlag Gmbh
: 9783644412514
: 1
: CHF 10.00
:
: Gesellschaft
: German
: 224
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
«Wenn ich gelegentlich nach Deutschland zurückkehre, kommt mir das Land wie ein großer Wartesaal vor, ein Wartesaal voller Warntafeln und Verbotsschilder, von denen das größte strengstens untersagt, bei Ankunft des Zuges den Bahnsteig zu betreten.» Schuldige für die Probleme dieses Landes finden wir schnell und prangern sie an. Doch was ist mit uns selbst? Schuldlos, aber völlig machtlos? Notker Wolfs ketzerische Analyse zeigt: Die Deutschen sind weiterhin ein Volk der Untertanen. Wir führen das unbeschwerte Leben einer Gesellschaft, die die persönliche Verantwortung an der Garderobe des Staates abgegeben hat. Denn seine Fürsorge und Bevormundung schafft Sicherheit. Aber um den Wandel der Verhältnisse mitzugestalten, müssen wir unsere individuelle Freiheit zurückgewinnen. Denn in Zukunft werden wir uns selbst überlassen sein ...

Notker Wolf OSB, Dr. phil., geboren 1940 in Bad Grönenbach im Allgäu, studierte Philosophie und Theologie in Rom und München. 1961 trat er in die Benediktinerabtei St. Ottilien am Ammersee ein und wurde 1977 zu ihrem Erzabt gewählt. Seit 2000 war er als Abtprimas des Benediktinerordens mit Sitz in Rom der höchste Repräsentant von mehr als 800 Klöstern und Abteien auf der ganzen Welt. 2008 wurde er auf weitere vier Jahre durch Wiederwahl in dieser Funktion bestätigt. Besonders am Herzen lagen ihm der interkulturelle Dialog mit anderen Religionen und partnerschaftliche Projekte in China und Nordkorea. Er starb im April 2024. 

01

ÜBERLEGUNGEN AUF EINEM CHINESISCHEN BAHNHOF


Ich verliere nicht leicht die Nerven. Ich habe manches erlebt und bin auf ziemlich alles gefasst. Aber damals, in der Bahnhofshalle der nordostchinesischen Stadt Shenyang, musste ich mich mühsam beherrschen. Es war meine erste Reise nach China, ich wollte mit dem Zug ins Innere der Mandschurei und bis an die nordkoreanische Grenze, und es schien mir nicht vergönnt, in den Besitz einer simplen Fahrkarte zu gelangen.

Zum Glück hatte ich meine Pfeife dabei – und Pater Sebastian, einen deutschen Benediktiner, der seit Jahren in Südkorea lebte. Pater Sebastian konnte nicht nur die chinesischen Schriftzeichen von Ortsnamen entziffern, er hatte auch ausgiebige Erfahrungen mit dem südkoreanischen Geheimdienst gesammelt. Mit anderen Worten: Er ließ sich nicht leicht ins Bockshorn jagen – und reagierte deshalb gelassen, als nach Stunden stoisch ertragenen Wartens die Reihe endlich an uns war und die Dame im Dämmerlicht des Fahrkartenschalters bloß den Kopf schüttelte und trocken erklärte, für Ausländer gebe es einen eigenen Schalter, die Treppe hoch, im ersten Stock. Er verlor nicht einmal die Fassung, als wir nach einer weiteren Stunde geduldigen Wartens im ersten Stock erfuhren, unser Devisengeld sei hier wertlos, an diesem Schalter könne man nur mit chinesischem Geld bezahlen. Er blieb auch unerschütterlich, als wir in einer dritten Schlange abermals eine gute Stunde ausharren mussten, bevor man uns die Fahrkarten tatsächlich aushändigte. Und er bewährte sich ungemein, als dann spätabends der Zug einlief und auf dem Bahnsteig ein unglaubliches Gerangel entstand, ein Stoßen und Schieben und Drängen, sodass wir uns regelrecht zu einer der Waggontüren vorkämpfen und bis in unser Abteil durchboxen mussten.

Eine harte Bewährungsprobe für unsere Geduld. Nicht die erste. Ich rief mir ins Gedächtnis, dass wir uns nicht auf einer Vergnügungsreise befanden. Ein Jahr zuvor, 1984, hatte China seine Grenzen für Individualreisende geöffnet, seither hatte ich darauf gebrannt, in die ehemalige Mandschurei zu fahren und Kontakt zu den Christen dort aufzunehmen. Würde ich überhaupt noch Christen finden? Wir Benediktiner hatten Anfang des letzten Jahrhunderts im Nordosten Chinas missioniert, hatten eine Abtei errichtet, Pfarreien gegründet, ein ganzes Schulsystem aufgebaut. Dann waren unsere Missionare von den Kommunisten des Landes verwiesen worden. Was war aus den Chinesen geworden, die sich seinerzeit zum christlichen Glauben bekehrt hatten? Niemand wusste etwas darüber. Ich fühlte mich für sie mitverantwortlich. Ich musste ihnen zeigen, dass wir sie nie vergessen hatten. Und außerdem war ich entschlossen, ein neues Kapitel unserer Missionsarbeit in China aufzuschlagen.

Ein argwöhnischer Staatssicherheitsdienst wie der chinesische konnte das, was wir vorhatten, durchaus verdächtig finden. Auf jeden Fall mussten wir Vorsichtsmaßnahmen ergreifen. Um keine schlafenden Hunde zu wecken, hatten wir nichts im Voraus gebucht, kein Hotel, keinen Flug und keine Zugfahrt. Kein übereifriger, unterbeschäftigter Geheimdienstmann irgendwo in der Provinz sollte von unseren Plänen Wind bekommen. Nur – Reisende, die unerwartet auftauchten, existierten in jenen Jahren für chinesisches Hotelpersonal eigentlich gar nicht. Oft saßen wir stundenlang auf unseren Koffern und warteten. Wieder einmal. Warteten, bis irgendwann sich irgendjemand doch noch unser erbarmte.

Nun gut, ich kann warten. Noch waren die Chinesen mit solchen Reisenden wie Pater Sebastian und mir überfordert. Bereut habe ich die langen Wartezeiten aber keineswegs. Ich habe nämlich – auf meiner ersten wie auf allen späteren Reisen – unterdessen die Menschen beobachtet und erlebt, wie ansteckend eine allgemeine Aufbruchstimmung sein kann, wie beflügelnd sich Erfolge auf ein ganzes Volk auswirken. Ich hab