1 Lieber auf den zweiten Blick
Eine Woche lang kam ich mir «hasenclever» vor. Ich hatte ein neues deutsches Wort gelernt. Fast ein Jahr nach meinem Umzug von Chicago nach Deutschland sah ich eines Tages eine Straße in Hamburg, dieHasencleverstraße hieß. Das Wort «bienenfleißig» war schon vorher eines von meinen Lieblingswörtern, aber «hasenclever» fand ich noch schöner – fast so hübsch wie eine «dufte Biene». In den Tagen danach benutzte ich voller Begeisterung so oft wie möglich mein neues Wort. Alles, was ich mehr als nur clever fand, bezeichnete ich nunmehr als hasenclever. Die Reaktionen meiner einheimischen Mitmenschen darauf waren sehr unterschiedlich: Einige schienen gar nichts Ungewöhnliches zu bemerken, andere haben lediglich leicht irritiert gelächelt und genickt. Nur eine einzige Frau gestand mir etwas skeptisch: «Ich wusste nicht, dass Hasen besonders clever sind.» Aber ich ließ mich davon nicht irritieren; ich hatte das Gefühl, zu den intellektuellen Tieren zu gehören.
Zu der Zeit wohnte ich in einer WG zusammen mit einem Schweizer namens Bodo, der an der Universität Hamburg promovierte. Seine Doktorarbeit drehte sich um eine mittelalterliche Handschrift in lateinischer Sprache. Er schien – im Gegensatz zu mir – mit seinem Latein nie am Ende zu sein. Zum Glück interessierte er sich auch für lebende Sprachen, und hier insbesondere für die deutsche, die ich so eifrig zu erlernen versuchte. In unserem Freundeskreis nannte man ihn zu Recht «den Sprachpfleger». Am nächsten Wochenende tat Bodo irgendetwas, was mich schwer beeindruckte. Daraufhin sagte ich: «Du, Bodo, das war clever! Das war sogar HASEN-clever!» Bodo schaute mich eine Zeitlang schweigend an; dann sagte er: «David, man kann entweder klug, geschickt, raffiniert, gerissen, schlau, gewieft, listig, gewitzt, durchtrieben, pfiffig oder sogar clever sein – aber Hasenclever war ein Schriftsteller.»
Plötzlich hatte ich gar nicht mehr den Eindruck, besonders clever zu sein. Ich war dermaßen enttäuscht, dass ich sogar zu fragen vergaß, ob Herr Hasenclever eher ein hohes Tier oder nur irgendein alter Hase war. Ich fand es schade, dass mein neuentdecktes Wort nicht die Bedeutung hatte, die mich nun schon eine Woche lang so entzückt hatte. Aber wenn man eine Fremdsprache lernt, gibt es eben leider enttäuschende Erlebnisse in Hülle und Fülle. Glücklicherweise passieren einem aber auch jede Menge witzige Sachen – von denen viele jedoch für den Täter erst im Nachhinein witzig sind. Oft erst viel später – und weit vom Tatort entfernt. Zum Glück führe ich seit Jahren ein Tagebuch, sodass auch ich dann mal über so etwas lachen kann.
Gut dreieinhalb Jahre zuvor, am 12. Februar 1994, fing ich aus Spaß an, Deutsch zu lernen. Auch heute, nach vielen Jahren, ist mir die Freude daran noch längst nicht verdorben. Während dieser Zeit bin ich zigtausend Mal von Deutschen gefragt worden, wie das bloß sein kann. Meine absolut ernstgemeinte Antwort: weil Deutsch so eine schöne, effiziente, wichtige und vor allem witzige Sprache ist! Wenn ich für jeden darauf erhaltenen skeptischen Blick einen Stein bekommen hätte, wäre ich heute steinreich.
Meiner Meinung nach wissen leider viel zu wenige Deutsche, wie humorvoll ihre Muttersprache eigentlich ist. Ich bin fest der Überzeugung, dass dies ausschließlich darauf zurückzuführen ist, dass Deutschmuttersprachler ihrer Sprache zu wenig Aufmerksamkeit schenken. Für viele Leute zum Beispiel war das unerwartet schlechte Wahlergebnis