: Leena Lehtolainen
: Ich war nie bei dir
: Rowohlt Verlag Gmbh
: 9783644302716
: 1
: CHF 9.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 352
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Nach Rikus Verschwinden macht Jaana sich schwere Vorwürfe. Denn nur kurz zuvor hatte sie die Entdeckung gemacht, dass das Lesebändchen ihres Tagebuchs nicht mehr an der Stelle war, an der es vorher lag. Wenn Riku darin gelesen haben sollte, hat er gewusst, wie ambivalent Jaana ihm gegenüberstand. Dass sie sich manchmal wünschte, ohne ihn und nur mit ihren Kindern zusammenzuleben. Mit der Zeit verblassen diese Gedanken jedoch, und sie beginnt, sich innerlich von Riku zu entfernen. Da passiert etwas Unerwartetes ...

Leena Lehtolainen, 1964 geboren, lebt und arbeitet als Literaturwissenschaftlerin, Kritikerin und Autorin in Degerby, westlich von Helsinki. Sie ist eine der auch international erfolgreichsten finnischen Schriftstellerinnen, ihre Ermittlerin Maria Kallio gilt nicht nur als eine Art Kultfigur der finnischen Krimiszene, sondern erfreut sich auch bei deutschen Leserinnen und Lesern seit dem Erscheinen des ersten Bandes der Reihe 1994 ungebrochener Beliebtheit.

Eins


Der Anfang

Einen Tag vor ihrem einundvierzigsten Geburtstag merkte Jaana Järvelä-Rämesuo, dass ihr Mann Riku heimlich in ihrem Tagebuch las. Riku war immer eifersüchtig auf das Buch gewesen, dem Jaana all das anvertraute, worüber sie mit ihrem Mann nicht sprechen wollte, beispielsweise über seine Potenzschwäche oder über ihre Gefühle für Ilkka. Allerdings kam Ilkka im aktuellen Tagebuch nicht vor, denn dieser Rausch war bereits vor einigen Jahren verflogen, es ging um all die anderen Dinge, über die sie seit langem nicht mehr mit Riku sprechen konnte: um Träume, Befürchtungen, Anlässe zur Freude, aber auch um die Frustration, mit der sie verfolgte, wie Riku immer depressiver wurde.

Es waren zwei Kleinigkeiten, die Jaana stutzig machten. Erstens hatte ihr aktuelles Tagebuch ein Lesebändchen, das es ihr erleichterte, die zuletzt beschriebene Seite aufzuschlagen. Doch diesmal lag das Bändchen hinter der ersten Seite. Jaana schöpfte sofort Verdacht. Das zweite Indiz wog noch schwerer: Ein paar Tage zuvor hatte sie geschrieben, dass sie Rikus lautes Schmatzen beim Frühstück unerträglich fand. Am Donnerstagmorgen, einen Tag vor ihrem Geburtstag, saßen sie wie immer gemeinsam am Tisch. Lotta und Lauri, die beiden Kinder, hatten ihr Frühstück bereits heruntergeschlungen, doch Jaana und Riku ließen sich Zeit und lasen beim Essen Zeitung. Jaanas Unterricht begann erst um zehn Uhr, Riku wollte zur gleichen Zeit aufbrechen und abends länger arbeiten.

Jaana hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten, während Riku gedankenverloren frühstückte. Dann hielt er plötzlich inne, sah Jaana an und wurde rot. In dem Moment war sie sich sicher. Sie stand auf, ohne ihren Kaffee auszutrinken. Sie hatte Angst, etwas Falsches zu sagen.

Vielleicht war sie Riku gegenüber ungerecht. Sie wusste ja, wie erschöpft er war, und die Drohungen der Tierversuchsgegner, die er in letzter Zeit erhalten hatte, sorgten für zusätzlichen Stress. Jaana schämte sich, weil sie auch noch Anforderungen an ihn stellte. Eine Frau musste ihrem Mann den Rücken stärken. Aber wie sollte sie das tun, wenn er sich immer mehr abkapselte und schwieg?

Plötzlich fühlte Jaana Panik in sich aufsteigen. Seit mehr als dreißig Jahren führte sie Tagebuch. Wie sollte sie ohne auskommen? Zwar hatte es bisweilen längere Unterbrechungen gegeben, doch wenn sie besonders glücklich oder besonders traurig gewesen war, hatte sie immer wieder zu ihrem Tagebuch gegriffen. Die längsten Schreibpausen fielen in Zeiten, in denen ihr alles gleichgültig war.

Jaana wählte ihre Tagebücher sorgfältig aus, es kam durchaus nicht jedes beliebige Heft in Frage. In der Schulzeit hatte sie meist kleine, mit buntem Marimekko-Stoff bezogene Büchlein verwendet, die in die Handtasche passten, aber allzu schnell vollgeschrieben waren. Dann ging sie zu dekorativen Büchern aus dem China-Basar über, mit eng linierten Seiten. Später, als Erwachsene, kaufte sie handgemachte Unikate und suchte auf Reisen nach außergewöhnlichen Exemplaren. Alles in allem hatte sie über sechzig Tagebücher. Wie lange las Riku bereits darin? Von der Küchentür aus warf sie ihm einen Blick zu. Er sah aus wie immer. Hatte er die ganze Zeit vorgegeben, nicht zu wissen, was in ihrem Kopf vorging, oder hatte er erst kürzlich mi