: Henry Miller
: Schwarzer Frühling
: Rowohlt Verlag Gmbh
: 9783644409019
: 1
: CHF 6.50
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 256
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Henry Miller: Provokateur, Hedonist und großer Erzähler Wie kein anderer großer Autor zuvor rüttelte Henry Miller an den sexuellen Tabus des 20. Jahrhunderts. In seinen berühmten Novellen erzählt er von den Labyrinthen der Großstädte, von ihren Straßen und Plätzen, von der Armut, Einsamkeit und den erotischen Eskapaden der kleinen Angestellten, Zeitungsboten, Journalisten, Kaffeehausbesucher und Dirnen. «Ein Hymniker, berauscht von der Vielfalt des Lebens und trunken von dem Reichtum der Welt.» Radio Bremen

Henry Miller, der am 26. Dezember 1891 in New York geborene deutschstämmige Außenseiter der modernen amerikanischen Literatur, wuchs in Brooklyn auf. Die Dreißiger Jahre verbrachte Miller im Kreis der «American Exiles» in Paris. Sein erstes größeres Werk, das vielumstrittene «Wendekreis des Krebses», wurde - dank des Wagemuts eines Pariser Verlegers - erstmals 1934 in englischer Sprache herausgegeben. In den USA zog die Veröffentlichung eine Reihe von Prozessen nach sich; erst viel später wurde das Buch in den literarischen Kanon aufgenommen. Henry Miller starb am 7. Juni 1980 in Pacific Palisades, Kalifornien.

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Der vierzehnte Bezirk


Was nicht auf der offenen Straße ist, ist falsch, abgeleitet, das heißt Literatur.

Ich bin Lokalpatriot – mein Vaterland ist der vierzehnte Bezirk in Brooklyn, wo ich aufwuchs. Der Rest der Vereinigten Staaten existiert nicht für mich, außer als Idee oder Literatur. Mit zehn Jahren wurde ich meinem heimatlichen Boden entrissen und kam auf einen Friedhof, einen lutheranischen Friedhof, auf dem die Grabsteine immer in Ordnung waren und die Kränze nie verwelkten.

Aber auf der Straße wurde ich geboren, und auf der Straße wuchs ich auf. «Die gewöhnliche, offene Straße, wo die schönste und sinnverwirrendste eiserne Vegetation» usw. … Geboren mit demWidder im Aszendenten, was eine feurige, aktive, energische und ziemlich ruhelose körperliche Verfassung verleiht. Mit Mars im neunten Haus!

Wenn man auf der Straße geboren ist, so bedeutet das, dass man sein ganzes Leben herumwandert, dass man frei ist. Es bedeutet Unfall und Zufall, Drama, Bewegung. Es bedeutet vor allem Phantasie. Eine Harmonie belangloser Tatsachen, die dem Herumschweifen eine metaphysische Sicherheit gibt. Auf der Straße lernt man, was die Menschen wirklich sind; unter anderen Umständen oder später erfindet man sie. Was nicht auf der offenen Straße ist, ist falsch, abgeleitet, das heißt Literatur. Was man gewöhnlich «Abenteuer» nennt, kommt gar nicht an die besonderen Aufregungen heran, die eine Straße mit sich bringt. Es ist gleichgültig, ob man zum Pol fliegt, ob man mit einem Kissen in der Hand auf dem Grunde des Ozeans sitzt, ob man neun Städte eine nach der anderen entwurzelt oder ob man wie Kurtz den Fluss hinauffährt und verrückt wird. Gleichgültig wie aufregend, wie unerträglich die Lage ist, es gibt immer Auswege, Verbesserungen, Bequemlichkeiten, Ausgleichungen, Zeitungen, Religionen. Aber einmal gab es nichts von alldem. Einmal war man frei, wild, mörderisch 

Die Jungens, die man verehrte, wenn man zuerst auf der Straße mit ihnen zusammenkam, bleiben einem fürs ganze Leben. Sie sind die einzigen wirklichen Helden. Napoleon, Lenin, Capone – alles Romanfiguren. Napoleon bedeutet nichts für mich im Vergleich zu Eddie Carney, von dem ich mein erstes blaues Auge bekam. Kein Mann, den ich später getroffen habe, erscheint mir so fürstlich, so königlich, so edel wie Lester Reardon, der allein durch die Tatsache, dass er die Straße hinabspazierte, Furcht und Bewunderung einflößte. Jules Verne führte mich nie an solche Örtlichkeiten, wie sie Stanley Borowski einem zeigen konnte, wenn es dunkel wurde. Robinson Crusoe fehlte es im Vergleich mit Johnny Paul an jeglicher Phantasie. Alle diese Jungens vom vierzehnten Bezirk sind jetzt noch greifbare Wirklichkeit. Sie wurden nicht erfunden oder entsprangen der Einbildung: Sie waren wirklich. Ihre Namen klingen wie Goldmünzen – Tom Fowler, Jim Buckley, Matt Owen, Rob Ramsay, Harry Martin, Johnny Dunne, ganz zu schweigen von Eddie Carney oder dem großen Lester Reardon.

Ja, noch jetzt, wenn ich Johnny Paul sage, hinterlassen mir die Namen der Heiligen einen schlechten Geschmack auf der Zunge. Johnny Paul war die lebende Odyssee des vierzehnten Bezirks. Dass er später einen Lastwagen fuhr, ist ganz nebensächlich.

Vor der großen Veränderung schien niemand zu bemerken, dass die Straßen hässlich oder schmutzig waren. Wenn die Kanalröhren geöffnet wurden, hielt man