: Daniel Kehlmann
: Ruhm Ein Roman in neun Geschichten
: Rowohlt Verlag Gmbh
: 9783644000018
: 1
: CHF 10.00
:
: Gegenwartsliteratur (ab 1945)
: German
: 256
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Ein Spiegelkabinett voll unvorhersehbarer Wendungen - komisch, tiefgründig und elegant erzählt vom Autor der «Vermessung der Welt». Ein Mann kauft ein Mobiltelefon und bekommt Anrufe, die einem anderen gelten. Nach kurzem Zögern beginnt er ein Spiel mit der fremden Identität. Ein bekannter Schauspieler wird von einem Tag auf den anderen nicht mehr angerufen, als hätte jemand sein Leben an sich gerissen. Ein Schriftsteller macht zwei Reisen in Begleitung einer Frau, deren größter Alptraum es ist, in einer seiner Geschichten vorzukommen, während ein verwirrter Internetblogger sich nichts sehnlicher wünscht, als einmal Romanfigur zu sein. Neun Episoden ordnen sich nach und nach zu einem romanhaften Gesamtbild: Ruhm ist ein tiefgründiges und zugleich komisches Buch über Identität und Täuschung, Wahrheit und Fiktion. Ein weltweit gelesener Esoterik-Guru steht kurz vor dem Selbstmord, eine Krimiautorin geht auf einer abenteuerlichen Reise in Zentralasien verloren, eine alte Dame auf dem Weg in den Tod hadert mit dem Schriftsteller, der sie erfunden hat, und ein Abteilungsleiter in einem Mobiltelefonkonzern verliert über seinem Doppelleben zwischen zwei Frauen Arbeit und Verstand. «Daniel Kehlmann hat mit seinem neuen Roman Weltliteratur geschaffen.» (Die Weltwoche)

Daniel Kehlmann, 1975 in München geboren, wurde für sein Werk unter anderem mit dem Candide-Preis, dem Per-Olov- Enquist-Preis, dem Kleist-Preis, dem Thomas-Mann-Preis und dem Friedrich-Hölderlin-Preis ausgezeichnet. Sein Roman Die Vermessung der Welt war einer der erfolgreichsten deutschen Romane der Nachkriegszeit, und auch sein Roman Tyll stand monatelang auf den Bestsellerlisten und schaffte es auf die Shortlist des International Booker Prize. Daniel Kehlmann lebt in Berlin.

Stimmen


Noch bevor Ebling zu Hause war, läutete sein Mobiltelefon. Jahrelang hatte er sich geweigert, eines zu kaufen, denn er war Techniker und vertraute der Sache nicht. Wieso fand niemand etwas dabei, sich eine Quelle aggressiver Strahlung an den Kopf zu halten? Aber Ebling hatte eine Frau, zwei Kinder und eine Handvoll Arbeitskollegen, und ständig hatte sich jemand über seine Unerreichbarkeit beschwert. So hatte er endlich nachgegeben, ein Gerät erworben und gleich vom Verkäufer aktivieren lassen. Wider Willen war er beeindruckt: Schlechthin perfekt war es, wohlgeformt, glatt und elegant. Und jetzt, unversehens, läutete es.

Zögernd hob er ab.

Eine Frau verlangte einen gewissen Raff, Ralf oder Rauff, er verstand den Namen nicht.

Ein Irrtum, sagte er, verwählt. Sie entschuldigte sich und legte auf.

Am Abend dann der nächste Anruf. «Ralf!» rief ein heiserer Mann. «Was ist, wie läuft es, du blöde Sau?»

«Verwählt!» Ebling saß aufrecht im Bett. Es war schon zehn Uhr vorbei, und seine Frau betrachtete ihn vorwurfsvoll.

Der Mann entschuldigte sich, und Ebling schaltete das Gerät aus.

Am nächsten Morgen warteten drei Nachrichten. Er hörte sie in der S-Bahn auf dem Weg zur Arbeit. Eine Frau bat kichernd um Rückruf. Ein Mann brüllte, daß er sofort herüberkommen solle, man werde nicht mehr lange auf ihn warten; im Hintergrund hörte man Gläserklirren und Musik. Und dann wieder die Frau: «Ralf, wobist du denn?»

Ebling seufzte und rief den Kundendienst an.

Seltsam, sagte eine Frau mit gelangweilter Stimme. So etwas könne überhaupt nicht passieren. Niemand kriege eine Nummer, die schon ein anderer habe. Da gebe es jede Menge Sicherungen.

«Es ist aber passiert!»

Nein, sagte die Frau. Das sei gar nicht möglich.

«Und was tun Sie jetzt?»

Wisse sie auch nicht, sagte sie. So etwas sei nämlich gar nicht möglich.

Ebling öffnete den Mund und schloß ihn wieder. Er wußte, daß jemand anderer sich nun sehr erregt hätte – aber so etwas lag ihm nicht, er war nicht begabt darin. Er drückte die Auflegetaste.

Sekunden später läutete es wieder. «Ralf?» fragte ein Mann.

«Nein.»

«Was?»

«Diese Nummer ist … Sie wurde aus Versehen … Sie haben sich verwählt.»

«Das ist Ralfs Nummer!»

Ebling legte auf und steckte das Telefon in die Jackentasche. Die S-Bahn war wieder überfüllt, auch heute mußte er stehen. Von der einen Seite preßte sich eine fette Frau an ihn, von der anderen starrte ein schnurrbärtiger Mann ihn an wie einen verschworenen Feind. Es gab viel, das Ebling an seinem Leben nicht mochte. Es störte ihn, daß seine Frau so geistesabwesend war, daß sie so dumme Bücher las und daß sie so erbärmlich schlecht kochte. Es störte ihn, daß er keinen intelligenten Sohn hatte und daß seine Tochter ihm so fremd vorkam. Es störte ihn, daß er durch die zu dünnen Wände immer den Nachbarn schnarchen hörte. Besonders aber störten ihn die Bahnfahrten zur Stoßzeit. Immer so eng, immer voll, und gut gerochen hatte es noch nie.

Seine Arbeit aber mochte er. Er und Dutzende Kollegen saßen unter sehr hellen Lampen und untersuchten defekte Computer, die von Händlern aus dem ganzen Land eingeschickt wurden. Er wußte, wie fragil die kleinen denkenden Scheibchen waren, wie kompliziert und rätselhaft. Niemand durchschaute sie ganz; niemand konnte wirklich sagen, warum sie mit einemmal ausfielen oder sonderbare Dinge taten. Man suchte schon lange nicht mehr nach Ursachen, man tauschte einfach so lange Teile aus, bis das ganze Gebilde wieder funktionierte. Oft stellte er sich vor, wieviel in der Welt von diesen Apparaten abhing, von denen er doch wußte, daß es immer eine Ausnahme war und ein halbes Wunder, wenn sie genau das taten,