Kenosis der Schrift
Flaubert, Begründer einer anderen Moderne? Die Zentralität Flauberts für die Moderne war Sartre ein Dorn im Auge. Seine Vorstellung von Moderne hatte mit dem, was er bei Flaubert las, nichts zu tun. Was Flaubert – sein Leben, sein Werk – am schmerzlichsten vermissen ließ, war das, was Sartre als Transzendenz bezeichnet: ein ständiges Selbstüberschreiten auf einen Selbstentwurf hin, den er dem modernen Menschen aufgegeben fand und für ihn als Erfüllung der Moderne entwarf. Flaubert hingegen war passiv, ganz und gar ohne aktiven Antrieb. Als pathetischer Charakter litt er und drückte das Erlittene nicht einmal aus. Sartre verbrachte zehn Jahre damit, Flaubert als typischen Irrweg, als eine neurotische Fehlentwicklung der Moderne aus dem Weg zu räumen, eine verfehlte Erscheinung, die keinesfalls nur individueller Art war, sondern als Kollektivneurose große Teile des Bürgertums betraf – daher Flauberts Erfolg, daher aber auch das notwendige Ende dieser Klasse, die nach Sartres Kriterien nicht fit für den Weg in die Moderne war.[3]Flaubert musste zu Ende analysiert werden, um dem neuen Menschen sartrescher Prägung, dem endlich modernen, auf Selbstüberschreitung bedachten Menschen Platz zu machen.
Von diesem passivischen Zug Flauberts, dem Erleiden, dem Pathos seines Charakters ausgehend, werde ich ein anderes Bild der Moderne zeichnen, für die Flaubert in der Tat eine wichtige Rolle spielt.[4]Flauberts Triebschicksal gewinnt an Brisanz, weil sein Werk dieses Schicksal in eine antichristlich-christliche Bewegung einschreibt, die man die Tradition der reinen Liebe genannt hat und deren Urszene die Entäußerung Christi am Kreuz ist. Darin geht es nicht um die Behauptung oder Überschreitung eines Selbst, sondern um einen Prozess, in dem die Entäußerung des Eigenen erlitten wird. Flaubert artikulierte sein Triebschicksal, das Freud wenig später durchgehend im Bezug auf antike Mythen zur Darstellung brachte, in einer antik vorinformierten, an der antiken Zeitenwende situierten und in ihr reflektierten christlichen Matrix.
Flauberts Werk spielt, so können wir heute, nach Freud, sagen, auch auf einer anderen Szene, der Szene des Unbewussten. Diese Szene wird durch die immer selbe Dynamik von Ödipus- und Kastrationskomplex bestimmt. Der Komplex trägt den Namen des Ödipus der griechischen Tragödie, weil dieser die beiden Tabus, die Kultur begründen, durchbrochen hat: Er hat tatsächlich seinen Vater ermordet und mit der Mutter geschlafen. In ihm tritt das heimliche Begehren ans Licht, das alle Kultur bannen muss.
In dieser tragischen Genealogie sind für Flauberts Werk von den ersten Versuchen an Vatermord, Brudermord und Inzest bestimmend. In dem frühen WerkQuidquid volueris bringt ein Affenmensch seinen »Bruder« um, vergewaltigt die Frau seines Ziehvaters, seine »Mutter« – und am Ende der spätenTrois contes begegnet uns dieselbe Konstellation in der Figur des Heiligen Julian, der seine Eltern erdolcht; die Erdolchung der Mutter ist eine offensichtlich travestierte Penetration. Beiden Szenen am Anfang und am Ende der Karriere Flauberts haftet etwas von der Gewalt an, die der kleine Junge bei Freu