: Uwe Heyll
: Wasser, Fasten, Luft und Licht Die Geschichte der Naturheilkunde in Deutschland
: Campus Verlag
: 9783593404455
: 1
: CHF 28.10
:
: Allgemeines, Lexika
: German
: 310
: Wasserzeichen/DRM
: PC/MAC/eReader/Tablet
: PDF/ePUB
Die Heilkräfte der Natur nutzen, ohne Medikamente oder chirurgische Eingriffe, war das Ziel der um 1800 entstehenden Naturheilkunde. Eine Vielfalt an Verfahren wurde entwickelt, vom Duschen im Freien mit eiskaltem Wasser über streng vegetarische Kost bis zum Baden im Licht. Zugrunde lag all dem die Vorstellung eines naturgemäßen Lebens und Heilens.

Uwe Heyll, Dr. med., ist Arzt für Innere Medizin und Rheumatologie und absolvierte ein Zweitstudium der Philosophie, Sozialwissenschaften und Geschichte der Medizin. Seit 1994 ist er am Institut für Geschichte der Medizin an der Heinrich Heine-Universität in Düsseldorf tätig.
Einleitung Eine auf den ersten Blick eher unspektakuläre Episode, die sich im Jahr 1811 zugetragen haben soll, gilt vielen naturheilkundlich Interessierten, Historikern und Buchautoren als Ausgangspunkt der deutschen Naturheilkunde. So erzählte sie 100 Jahre später der schlesische Heimatdichter Philo vom Walde: Der damals 12-jährige Bauernjunge Vincenz Prießnitz aus der schlesischen Ortschaft Gräfenberg hütete eine Herde Kühe in der Nähe einer Quelle. Während er, in Träumen versunken, unter einem schattigen Busch lag, fiel ihm ein angeschossenes Reh auf, das sich zum Wasser schleppte. Dort angekommen, badete es sein verwundetes Bein, um anschließend wieder im Wald zu verschwinden. An den folgenden Tagen erschien das Reh regelmäßig und jedes Mal tauchte es sein verletztes Bein in das frische Quellwasser. Erst als das Tier vollständig genesen war, blieb es der Quelle fern. Der junge Prießnitz schloss aus dieser Episode, dass dem Wasser eine besondere Heilkraft zukommen müsse. Als er sich kurze Zeit später selbst verletzte, entsann er sich seines Erlebnisses und konnte zum Erstaunen der Ärzte durch die alleinige Anwendung von Wasser eine Heilung herbeiführen. In der Folgezeit sammelte Prießnitz weitere Erfahrungen in der Wassertherapie, zunächst bei Erkrankungen seiner Familienmitglieder und Verwandten, ehe er sich an die Behandlung von Freunden, Nachbarn und später auch Fremden wagte. Aus dem ungebildeten Bauernjungen wurde ein geachteter und verehrter Heilkundiger mit internationaler Kundschaft. Seine Wasserkur führte zur Entstehung einer neuen Heilform, die in ihrer Glanzzeit mehr als 100.000 organisierte Anhänger zählte und über eigene Ambulatorien, Praxen, Krankenhäuser und Lehrstühle verfügte. Allgemein gilt Vincenz Prießnitz heute als Begründer der Naturheilkunde, weshalb der Deutsche Naturheilbund den Namenszusatz 'Prießnitz-Bund' trägt. Rückblickend stellt sich die Frage, wie die Erzählung von Prießnitz und dem Reh zu bewerten ist. Handelt es sich bei der Beobachtung des jungen Prießnitz um eine jener bedeutsamen Entdeckungen, die den Blick für ganz neue Tatsachen eröffnete und deshalb in eine Reihe mit dem fallenden Apfel Isaac Newtons oder der verschimmelten Bakterienkultur Alexander Flemings gehört? Oder aber ist die Episode, deren Überlieferung wesentlich Philo vom Walde zu verdanken ist, nicht mehr als eine Anekdote oder gar eine Legende, die aus dem Geist der Verehrung geboren wurde? Philo vom Walde war keineswegs der erste, der die Geschichte von Prießnitz und dem Reh erzählt hat. Sie wurde auch schon früher in verschiedenen Variationen berichtet, beispielsweise in der Zeitschrift Der Wasserfreund aus dem Jahr 1861. Dort allerdings war es kein Reh, sondern ein Schaf aus der Herde des jungen Prießnitz, das seine Wunden in der Quelle badete. Philo vom Walde aber, der mit bürgerlichem Namen Johannes Reinelt hieß und in Breslau als Lehrer arbeitete, erhob die Episode in den Rang einer historischen Tatsache, an deren Wahrheit kein Zweifel mehr zugelassen werden durfte. In seiner großen Prießnitz-Biographie, die zum hundertsten Geburtstages des verehrten Schöpfers der Naturheilkunde erschien, widmete er den Vorgängen an der 'Prießnitz'-Quelle nicht nur ungewöhnlich viel Raum, er ließ sie zudem mit einer Zeichnung illustrieren, die den Ort der Ereignisse zeigte und so für die Authentizität des Berichteten bürgte. Offensichtlich hatte die Episode - fast 90 Jahre nach ihrem Geschehen - einen besonderen Stellenwert für die Naturheilbewegung erlangt. Dies zeigte sich erneut, als Alfred Baumgarten, ein Arzt und Schüler Sebastian Kneipps, auf Philo vom Waldes Biographie mit einer eigenen Darstellung der Ereignisse reagierte, in der er die Wahrheit der Erzählung anzweifelte und damit heftige Reaktionen im Lager der Prießnitz-Anhänger provozierte.
Inhalt6
Einleitung10
1. Anfänge der Naturheilkunde14
Die Gräfenberger Wasserkur14
Ein neues Bild der Natur19
Die heilsamen Krisen22
»Verrat« und früher Tod26
Johannes Schroth: der Konkurrent aus Lindewiese29
2. Das Konzept der Naturheilkunde34
Vorkämpfer der Naturheilkunde34
Die Gründung der Naturheilkunde als Laienpraxis40
Das Paradies der Gesundheit44
Von der Religion zur Utopie51
Das System der Natur55
3. Die Heilkunst der Naturheilkunde60
Grundzüge der naturheilkundlichen Krankheitslehre60
Der Arzt als Diener der Natur65
Wasser, Dampf und heiße Luft68
Fasten und Schonkost71
Die »Schwedische Gymnastik«75
Techniken der äußeren und inneren Massage81
Der »Lichtluftkultus«84
4. Die Lebenskunst der Naturheilkunde88
Vorbeugung statt Therapie88
Vegetarismus, Grahambrot und Rohkost90
Luft, Licht und Kleidung94
Der »vollendete Mensch«100
Aufklärung und Weltflucht105
5. Kämpfe und Konflikte110
Die Physikalische Therapie110
Der Kampf um den Fortschritt117
Der »therapeutische Aktionismus«122
Grausamkeit im Dienste der Wissenschaft128
6. Krise und Niedergang131
Die Suche nach dem Naturzustand131
Die »Affäre Rikli«135
Der Tod Theodor Hahns138
Die Vertreibung aus dem Paradies142
Generationenwechsel146
Das Ende der Laientherapie151
Der Kampf gegen Scharlatanerie155
Friedrich Eduard Bilz: Naturheilkundler und Geschäftsmann157
Der »Betrug« des Louis Kuhne162
Der »Lehmdoktor« Adolf Just166
Freie Heilkünstler: Sebastian Kneipp und Emanuel Felke169
7. Ärztliche Naturheilkunde174
»Stiefschwester Naturheilkunde«174
»Schweningers Sieg«179
Zwei Lehrstühle und ein Bundeskrankenhaus182
»Jeder Arzt ist Naturarzt«186
Emil Klein: Die Intuition des Künstlerarztes190
Heinrich Lahmann: Der erste »wissenschaftliche Naturarzt«194
Maximilian Bircher-Benner: Der Lichtwert der Nahrung197
8. Biologische Medizin202
Die Rückkehr des Hippokratismus202
»Prüfet alles und das Gute behaltet«206
Das Bündnis zwischen Naturärzten und Biologischer Medizin209
Die vitalistische Wende212
Die »Krise der Medizin«216
Von der heilenden zur ausmerzenden Natur220
Der Weg zur Neuen Deutschen Heilkunde224
9. Neue Deutsche Heilkunde230
Der Aufruf des Reichsärzteführers230
»Nationalsozialistisch denken heißt biologisch-ganzheitlich denken«234
Die Wiesbadener Ärztetagung239
»Extremisten, Monomane und Dogmatiker«243
Das »große Experiment« am Rudolf-Heß-Krankenhaus248
Das Heilkräuterprogramm der SS254
»Deutsche Volksgesundheit aus Blut und Boden«258
Das Ende der Naturheilbewegung263
Durchhalten für den Endsieg266
10. Ganzheits- und Regulationsmedizin271
»Wie ein Phönix aus der Asche«271
»Freude an der Vielgestaltigkeit«275
Von der Biologischen Medizin zur Regulationsmedizin280
Resümee und Ausblick284
Literatur295
Personenregister309