I. ICH GEH DANN MAL NACH OBEN
Eine angestaubte Video-Kassette, mit rotem Kuli beschriftet.Sterbehilfe: Papi. 13. August 2001. Fernseh-Aufnahmen. Wir saßen am Neckar in einem Stocherkahn, der Hölderlin-Turm: vis-a-vis, und unterhielten uns über die letzten Dinge. Ob ein Mensch, zumal ein Christ, der unheilbar krank sei, von Schmerzen gepeinigt, nicht mehr er selbst, sich wirklich ergeben in sein Schicksal fügen müsse, bis ihn Gott endlich erlöse – oder ob es nicht doch ein Recht auf ein selbstbestimmtes Ende in Würde gäbe, ein Recht auf Euthanasie im ursprünglichen Sinne des Worts, ein Recht auf einen schönen, gnädigen Tod.
Die Sonne strahlte und der damals 78jährige, der sagte, er sei nicht mehr im Vollbesitz seiner Kräfte, war sich seiner Sache ganz sicher. Auf dem unter der großen Trauerweide vertäuten Kahn hat erden freundlichen Tod beschworen, den ein Mensch, der auf keine Heilung mehr hoffen kann, mit Fug und Recht ersehne:dem sollte ich im Zeichen der Liebe helfen können. Immer wieder hat er, leger im weißen Hemd, auf den Arzt Max Schur verwiesen, der den todkranken Sigmund Freud mit einer Überdosis Morphium von seinem qualvollen Krebsleiden erlöste:Er wusste, einer wird Dir beistehen – wir könnten unendlich viel gelassener leben, wenn wir wüssten: ein Arzt oder eine Ärztin wird Dir helfen, den kleinen Übergang erleichtern. Und dann hat er, höchst entspannt, mit einem Lächeln hinzugefügt, dass er im Fall eines Falles auch einen Max Schur habe,der, wenn es soweit ist, aus Nächstenliebe dem Willen seines Patienten folgen wird.
Es ist düster und kalt, als ich mir das Band mit unserem Gespräch Jahre später noch einmal ansehe. Meine letzte Frage damals hatte ich lange vergessen, den Einwand, Freud habe Rachenkrebs, unerträgliche Schmerzen gehabt, was aber wäre, wenn Du Alzheimer hättest? Darf das ein Sohn fragen? Ich durfte. Und mein Vater war in seinem Element.Wenn die Autonomie des Menschen nicht mehr im Zentrum steht, wenn ich nicht sagen kann, Tilman, Du siehst selbst, es ist an der Zeit – ich sage mit dem Mann da oben – er meinte nicht Gott, sondern den Dichter des Hyperion, der in seinem goldgelben Neckarturm fast 40 Jahre lang dem Tod entgegendämmerte –ich sage mit Friedrich Hölderlin: April, Mai und Junius sind ferne, ich bin nichts mehr, ich lebe nicht mehr gerne … dann möchte ich das mir von Gott geschenkte Leben zurückgeben. Was ihm Angst machte, war die Vorstellung, einer unheilbaren Krankheit, einem endlosen Siechtum wehrlos ausgeliefert zu sein:Ich will sterben - nicht gestorben werden. Seitdem sind sieben Jahre vergangen. Und kaum etwas erinnert mehr an den Mann, der mir einst im Kahn gegenübersaß.
Nachts, wenn der große Hunger kommt und das Schlafmittel keine Ruhe mehr gibt, strampelt er sich frei. Die nasse Windel plagt. Er hat genug gedämmert. Langeweile hat er sein ganzes Leben gehasst. Er will raus hier. Irgendwohin. Unter seinem Bett steht ein beiges Kästchen, das jüngst angeschafft