Eine alawitische Militärdiktatur? Zum Verhältnis von Staat, Militär und Religion in Syrien
Tyma Kraitt
Seit nunmehr fünfzig Jahren wird Syrien durchgehend von der Arabisch-Sozialistischen Baath-Partei regiert. Am 8. März 1963 rissen die Baathisten in einem blutigen Staatsstreich die Macht an sich. Sie etablierten eine Art Einparteiensystem, das die politische Landschaft homogenisierte, indem politische Gegner ausgeschaltet oder einverleibt wurden. Das gleiche System brachte aber unbestrittenermaßen auch Stabilität in ein Land, welches seit seiner Unabhängigkeit im Jahre 1946 als unregierbar galt. Nach fortwährenden internen Fraktionskämpfen setzte sich mit der Machtübernahme von Hafiz al-Assad der militärische Flügel innerhalb der Baath-Partei durch. Assad ist es als erstem Befehlshaber gelungen, die Armee hinter sich zu einen. Sein Erfolg markiert nicht nur das vorläufige Ende der politischen Aspirationen und Unruhen der Post-Unabhängigkeitsära, sondern auch den damaligen Höhepunkt des rasanten Aufstiegs der Alawiten vom Rande der syrischen Gesellschaft an deren Spitze. Unter Hafiz al-Assad wurden die gesellschaftspolitischen Widersprüche aus der französischen Mandatszeit, die der Dominanz der Minderheiten erst den Weg ebneten, im syrischen Staatsgefüge verankert. Dieser Umstand lässt sich auch dahingehend interpretieren, dass der Baathismus – eine sich auf die anti-koloniale Tradition des Panarabismus berufende Ideologie – nicht, wie dem eigenen Selbstverständnis nach, die kolonialen Machtverhältnisse behoben, sondern letztlich fortgesetzt hat.
Im gegenwärtigen politischen und medialen Diskurs wird das syrische Herrschaftssystem – das sogenannte »Regime« – in der Regel als eine von der Minderheit der Alawiten geführte Militärdiktatur präsentiert. Diese Darstellung ist keineswegs falsch, wird der Komplexität des syrischen Systems und seiner Genese aber kaum gerecht. Es stellt sich hier die Frage, wie es einer Minderheit von knapp über zehn Prozent überhaupt gelingen konnte, den Staat zu dominieren. Ist dies ohne jegliche Partizipation der Mehrheitsgesellschaft möglich? Welche Rahmenbedingungen, welche historischen Entwicklungen haben ihren Aufstieg begünstigt? Gerade das hohe Eskalationspotenzial der aktuellen Krise, ein möglicher Staatszerfall, eine Libanisierung bzw. Irakisierung des Konflikts machen eine differenzierte Auseinandersetzung mit dem Machtgefüge im syrischen Staat mehr als notwendig.
Die »Troupes Spéciales du Levant« als Aufstiegsvehikel
Wie bereits angedeutet, adaptierte das Baath-Regime jene gesellschaftspolitischen Widersprüche, die sich zum Teil auf die französische Fremdherrschaft zurückzuführen lassen und auch heute noch die aktuellen Konflikte mitprägen. Dazu zählt u. a. das starke Engagement syrischer Minoritäten in der Armee.
Nachdem die Franzosen 1920 das Mandat über den Libanon und Syrien übernahmen, wurden die levantinischen Spezialtruppen formiert. Diese bestanden aus libanesischen und syrischen Soldaten, die dem Kommando französischer Offiziere unterstanden und als Hilfstruppe zur Niederschlagung innenpolitischer Unruhen eingesetzt wurden. In den Reihen der Troupes Spéciales fanden sich zahlreiche Angehörige benachteiligter ländlicher Bevölkerungsgruppen und Minderheiten. Diese nutzten das Militär als Vehikel zum sozialen Aufstieg. Das galt vor allem für die unter osmanischer Herrschaft marginalisierten Alawiten, Anhänger einer gnostischen Sekte mit starken Bezügen zur Schia. Sie wurden während der Mandatszeit gefördert und gegen die sunnitische Mehrheitsbevölkerung aufgebracht.53
Im Rahmen der Troupes Spéciales ernannten die Franzosen vor allem Mitglieder der drusischen, christlichen oder alawitischen Minderheiten zu Offizieren, um den Offizierskorps dadurch an sich zu binden. Die syrische Legion innerhalb der Troupes Spéciales stellt den Ausgangspunkt für das syrische Militär in seiner heutigen Form dar.54 Schon in den ersten Jahren der Unabhängigkeit bewies das Militär (auch als Folge der arabischen Niederlage gegen Israel) seine Durchschlagskraft und entmachtete in einem vom CIA unterstützten Coup unter dem prowestlichen, kurdischen Oberst Husni az-Zaim 1949 die damalige Zivilregierung von Präsident Shukri al-Quwatli.55 Im selben Jahr kam es insgesamt zu zwei Staatsstreichen des Militärs. Dieser Umstand deutete bereits auf Differenzen innerhalb der Armee hin, da es keinem Befehlshaber gelungen ist, sich auf Dauer zu halten. Meist handelte es sich um konfessionelle, ethnische oder ideologische Differenzen. Letztlich konnte sich Oberst Adib Shishakli durchsetzen und von 1953 bis 1954 halten. Shishakli trieb die Überwindung der alten Strukturen voran, indem er