Kapitel 2
Der Unverwundbare
1.
Der Schweizer Informator war mager, gebeugt und hatte einen Traum von der Aufklärung als einer stillen und sehr schönen Morgendämmerung; zuerst unmerklich, dann war sie da, und der Tag brach an.
So dachte er sie sich. Sanft, still und ohne Widerstand. So sollte es immer sein.
Er hieß François Reverdil. Er war der Mann auf dem Schloßhof.
Reverdil hatte Christian an der Hand gehalten, weil er die Etikette vergessen und nur Trauer über die Tränen des Jungen empfunden hatte.
Deshalb hatten sie still dort im Schloßhof gestanden, im Schnee, nachdem Christian gesegnet worden war.
Am Nachmittag desselben Tages wurde, vom Balkon des Schlosses, Christian VII. zu Dänemarks König ausgerufen. Reverdil hatte schräg hinter ihm gestanden. Es erregte Unmut, daß der neue König gewinkt und gelacht hatte.
Es wurde als unpassend angesehen. Für das anstoßerregende Verhalten des Königs wurde keine Erklärung gegeben.
Als der Schweizer Informator François Reverdil 1760 als Hauslehrer des elfjährigen Kronprinzen Christian angestellt wurde, gelang es ihm lange zu verbergen, daß er jüdischer Herkunft war. Seine beiden anderen Vornamen – Èlie Salomon – wurden im Anstellungsvertrag ausgelassen.
Die Vorsicht war sicher unnötig. Seit mehr als zehn Jahren hatte es in Kopenhagen keine Pogrome gegeben.
Die Tatsache, daß Reverdil ein Mann der Aufklärung war, war auch nicht angegeben. Er war der Auffassung, daß es sich um eine unnötige Auskunft handelte, die schaden konnte. Seine politischen Ansichten waren eine Privatangelegenheit.
Vorsicht war sein Grundprinzip.
Seine ersten Eindrücke von dem Jungen waren sehr positiv.
Christian hatte ein »einnehmendes Wesen«. Er war zart, klein von Wuchs, fast mädchenhaft, doch mit einem gewinnenden Äußeren und Inneren. Er hatte einen schnellen Verstand, bewegte sich weich und elegant und sprach fließend Dänisch, Deutsch und Französisch.
Schon nach einigen Wochen wurde das Bild komplizierter. Der Junge schien sehr schnell Zuneigung zu Reverdil zu fassen und behauptete schon nach einem Monat »keinen Schrecken vor ihm zu verspüren«. Als Reverdil sich über das verblüffende Wort »Schrecken« wunderte, meinte er zu verstehen, daß Furcht der natürliche Zustand des Jungen sei.
Das »einnehmende Wesen« kennzeichnete im folgenden nicht mehr das ganze Bild von Christian.
Auf den obligatorischen Spaziergängen, die zum Zweck der Kräftigung und ohne andere Anwesende durchgeführt wurden, gab der Elfjährige Gefühlen und Wertungen Ausdruck, die Reverdil zunehmend entsetzten. Sie wurden auch in ein eigentümliches sprachliches Gewand gekleidet. Christians manisch wiederholte Sehnsucht danach, »stark« oder »hart« zu werden, drückten keineswegs den Wunsch aus, eine kräftige körperliche Konstitution zu bekommen; er meinte etwas anderes. Er wollte »Fortschritte« machen, aber auch dieser Begriff ließ sich nicht auf eine rationale Weise deuten. Seine Sprache schien aus einer sehr großen Anzahl von Wörtern zu bestehen, die nach einem geheimen Code geformt waren, den ein Außenstehender unmöglich entschlüsseln konnte. Bei den Konversationen, die in Anwesenheit einer dritten Person oder bei Hofe stattfanden, fehlte diese kodierte Sprache gänzlich. Aber im Gespräch unter vier Augen mit Reverdil kehrten die Codewörter fast manisch wieder.
Am eigentümlichsten waren »Fleisch«, »Menschenfresser« und »Strafe«, die scheinbar ohne Sinn verwendet wurden. Einzelne Ausdrücke wurden jedoch bald begreiflich.
Wenn sie nach den Spaziergängen zu den Unterrichtstunden zurückkehrten, konnte der Junge sagen, sie gingen jetzt zu »einer scharfen Examination« oder »einem scharfen Verhör«. Der Ausdruck bedeutete im Juristendänisc