Das erste Gebot
Ich bin der Herr, dein Gott,
der dich aus der Knechtschaft
geführt hat. Du sollst nicht
andere Götter haben neben mir.
Ich bin
Ich bin– mit diesen zwei kleinen Worten eröffnet Gott die Liste der Zehn Gebote. Bevor er Räume zum Leben eröffnet und die Weite des Daseinshorizonts abschreitet, sagt er, wer er ist. Ich bin, das ist eine Aussageüber die eigene Identität.
Wer bin ich? Ich kenne meinen Namen, weiß, was mich bisher geprägt hat: Uneheliche Geburt, der Pfarrer, der mir die Taufe verweigert, weil ich»Kind der Sünde« bin. Meine Mutter, die wie eine Löwin für ihre Tochter und ihr Recht auf die Sakramente kämpft.
Sie findet einen Vikar, der mich im Wohnzimmer tauft. Ich bin ein Kind Gottes, sagt er liebevoll. Der Pfarrer dagegen muss bald darauf gehen, weil er kleine Mädchen, nackt unter Baströckchen, durch ein Flüsschen waten lässt. Röckchen in die Höhe.
Ich erlebe eine Kindheit in einfachen Verhältnissen. Der geliebte Vater ist bald schwer krank, die Mutter pflegt ihn liebevoll. Es riecht nachÄther im»Taufzimmer«. Wunden müssen verarztet werden. Ich spiele neben Medikamenten.
Ich bin: Ein kleines Mädchen, das neugierig ist auf die Welt und von seinen Eltern schon bald freigelassen wird. Suche du dir deinen Weg!, heißt es. Ich gehe als Erstes in den Kindergottesdienst, weil es dort aufregende Geschichten zu hören gibt. Und die Gebote!
»Ich bin!«, sagt Gott. Er verbindet seine Aussage mit der ersten Erinnerung, die das Volk an ihn hat. Gott ist der, der ein Ende macht mit aller Sklaverei und in die Freiheit führt. Wer sich ihm anvertraut, spürt frischen Wind um die Nase.
»Ich bin«– seit wann kann ich das sagen? Meine erste Erinnerung ist die an den irdischen Vater. Er darf nur zu Besuch kommen, denn unverheiratete Paare können zu jener Zeit nicht zusammenleben. Ich stehe im Gitterbett und warte, dass er kommt.
Endlich ist er da. Jetzt will ich auch essen, kann schlafen. Am nächsten Morgen, als ich aufwache, ist er wieder weg. Meine Mutter verheißt seine Wiederkehr. Ich warte wieder. Und er kommt. Verlässlich, jeden Tag. Bis er zu uns ziehen kann, weil er Hilfe braucht.
»Ich bin derjenige«, sagt Gott,»der dir Leben möglich macht. Lass andere sagen, was sie wollen. Kümmere dich nicht um ihre verlogene, selbstgerechte Moral. Du bist mein geliebtes Kind, meine geliebte Tochter. Ich bin dein Vater. Du sollst leben!«
Wunderbare Unvollkommenheit
Gott sagt, wer er ist. Er erinnert an die ersten gemeinsamen Erfahrungen. Gott wünscht sich Treue– und er will uns nicht teilen. Das erinnert natürlich an die Beziehung zwischen zwei Menschen, die sich lieben. Ich will meinen Mann keinesfalls teilen– er mich auch nicht. Trotzdem spreche ich jetzt nicht von der Treue in einer Partnerschaft, sondern davon, dass dieser eine Gott ganz klar entlasten will.
Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir. Manchmal sagt mein Mann zu mir lächelnd»meine Göttin«– und ich weiß, dass er das mit zärtlicher Ironie sagt. Er kennt meine Schwächen viel zu genau. Würde er es ernst meinen, wäre das ein Problem.Ich bin der Herr, dein Gott: Lass dich nicht dazu verführen, deinen Mann, deine Frau in den Himmel zu heben und alles von ihm, von ihr zu erwarten.
Der Partner, die Partnerin– sie sind nicht Gott, nicht vollkommen. Sie sind nicht dazu da, einen zu erlösen von allenÜbeln. Wer an Gott glaubt und sich von ihm Zuwendung erhofft, kann seinen Mann, seine Frau entlasten vom Terror der totalen Verantwortung für das ganze eigene und gemeinsame Leben. Die Endlichkeit zeigt sich auch im begrenzten Glück. Wir müssen und dürfen uns einüben in die Freude am halb Gelungenen.
Mein Mann hat Pfannkuchen gemacht und die Küche nicht aufgeräumt? Jetzt kommt Arbeit auf mich zu– aber seine braunen Augen haben so unfassbar geleuchtet, dass ich einfach nichts sagen kann und stillschweigend-verliebt alles sauber mache. Umgekehrt legt er nur leise knurrend die weißen Hand