: Kevin Dutton
: Psychopathen Was man von Heiligen, Anwälten und Serienmördern lernen kann
: dtv Deutscher Taschenbuch Verlag
: 9783423417785
: 2
: CHF 8.80
:
: Angewandte Psychologie
: German
: 320
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Sind Sie ein Psychopath?   Natürlich nicht. Vielleicht sind Sie eine Führungskraft oder ein sehr spiritueller Mensch. Sie haben Charme, Sie sind unerschrocken und risikofreudig, können harte Entscheidungen treffen. Sie sind sehr aufmerksam und können sich gut auf ein Ziel konzentrieren. Sie werden feststellen, dass das Eigenschaften sind, die Sie mit Psychopathen teilen. Selbstredend sind diese Eigenschaften nützlich, wenn man ein Serienmörder werden will. Aber auch im Gerichtssaal, in der Wirtschaft oder im OP. Oder im Leben eines Heiligen. Jede Medaille hat zwei Seiten. »Eine meisterhafte, sehr lesbare und unterhaltsame Darstellung der Psychopathie und ihrer Manifestationen im Alltag. Manche seiner Ideen werden kontrovers diskutiert werden, aber es ist ein höchst anregendes Buch für alle, die die>psychopathische< Welt, in der sie leben, besser verstehen wollen.« Prof. Dr. Robert Hare, Erfinder der Psychopathy Checklist        

Kevin Dutton,geboren 1967 in London, ist promovierter Psychologe, er forscht an der University of Oxford und ist Mitglied der British Psychological Society. Er veröffentlicht regelmäßig in führenden internationalen Wissenschaftsmagazinen und spricht weltweit bei Konferenzen. Seine Bücher>Gedankenflüsterer< und>Psychopathen< sind internationale Bestseller.

1 Stich der Skorpione


Groß und gut sind selten dasselbe.

Winston Churchill

Ein Skorpion und ein Frosch sitzen am Ufer eines reißenden Flusses. Beide müssen hinüber auf die andere Seite.

»Hallo, Herr Frosch!«, ruft der Skorpion durch das Schilf.»Wären Sie so nett, mich auf Ihrem Rückenüber das Wasser zu bringen? Ich habe auf der anderen Seite wichtige Geschäfte zu führen. Und ich kann bei so starker Strömung nicht schwimmen.«

Der Frosch wird sofort misstrauisch.

»Herr Skorpion«, erwidert er.»Ich verstehe, dass Sie auf der anderen Seite des Flusses wichtige Geschäfte tätigen wollen. Aber denken Sie mal einen Moment langüber Ihre Bitte nach. Sie sind ein Skorpion. Sie haben einen großen Giftstachel an Ihrem Schwanzende. Sobald ich Sie auf meinen Rücken lasse, werden Sie mich stechen. Sie können gar nicht anders.«

Der Skorpion hat schon mit solchen Einwänden des Frosches gerechnet. Er antwortet:

»Mein lieber Herr Frosch, Ihre Vorbehalte sind absolut nachvollziehbar. Aber es liegt eindeutig nicht in meinem Interesse, Sie zu stechen. Es ist wirklich wichtig für mich, auf die andere Seite des Flusses zu gelangen. Und ich gebe Ihnen mein Wort, dass Ihnen nichts geschehen wird.«

Der Frosch sieht ein, dass etwas dran ist an dem, was der Skorpion sagt, und gibt sein Widerstreben auf. Er erlaubt ihm, auf seinen Rücken zu klettern. Und hüpft ins Wasser.

Zunächst ist alles in bester Ordnung und läuft nach Plan. Doch nach der Hälfte der Strecke spürt der Frosch plötzlich einen stechenden Schmerz im Rücken. Aus dem Augenwinkel sieht er, wie der Skorpion den Stachel aus seiner Haut zieht. Ein tödliches Taubheitsgefühl kriecht ihm in die Glieder.

»Du Dummkopf!«, quakt der Frosch.»Du hast gesagt, du müsstest auf die andere Seite, um Geschäfte zu tätigen. Jetzt werden wir beide sterben!«

Der Skorpion zuckt die Achseln und führt auf dem Rücken des ertrinkenden Froschs ein Tänzchen auf.

»Herr Frosch«, antwortet er lässig,»Sie haben es selbst gesagt. Ich bin ein Skorpion. Es entspricht meinem Wesen, zu stechen.«

Dann verschwinden der Skorpion und der Frosch im schmutzigen, trüben Wasser des Stroms.

Und keiner von beiden ward je wieder gesehen.

Bestandteil des Wesens


Im Jahr 1980 wurde dem Amerikaner John Wayne Gacy der Prozess gemacht. Bei der Gelegenheit erklärte er mit einem Seufzer, sein einziges Verbrechen sei es, dass er»einen Friedhof ohne Lizenz betrieben habe«.

Es war wirklich ein Friedhof. Zwischen 1972 und 1978 hatte Gacy mindestens dreiunddreißig junge Männer und Jungen (mit einem Durchschnittsalter von etwa achtzehn Jahren) vergewaltigt und ermordet und dann in einen Kriechkeller unter seinem Haus geschafft. Eins seiner Opfer, Robert Donnelly,überlebte Gacys Aufmerksamkeiten, aber er wurde von ihm so gnadenlos gequält, dass er ihn anflehte, es»hinter sich zu bringen« und ihn zu töten.

Gacy war irritiert.»Dazu komme ich noch«, erwiderte er.

Ich habe das Gehirn von John Wayne Gacy in den Händen gehalten. 1994 wurde er durch eine Todesspritze hingerichtet. Dr. Helen Morrison, eine Zeugin der Verteidigung bei seinem Prozess und eine der weltweit führenden Experten in Bezug auf Serienmörder, hatte bei seiner Autopsie in einem Chicagoer Krankenhaus assistiert. Anschließend war sie mit einem Konservenglas auf dem Beifahrersitz ihres Buick, in dem Gacys Gehirn hin- und herschwappte, nach Hause gefahren. Sie hatte herausfinden wollen, ob es etwas gab – Läsionen, Tumore, eine Krankheit –, das sein Gehirn von den Gehirnen normaler Menschen unterschied.

Bei den Tests kam nichts Ungewöhnliches heraus.

Jahre später hatte ich das Vergnügen, mit Dr. Morrison in ihrem Büro in Chicago bei einer Tasse Kaffeeüber die Bedeutung dieser Untersuchungsergebnisse zu sprechen. Darüber, was es bedeutete, dass man nichts gefunden hatte, keinerlei Anomalien.

Ich fragte sie:»Heißt das, dass wir im Grunde genommen tief in unserem Inneren alle Psychopathen sind? Dass jeder von uns die Neigung zum Vergewaltigen, Töten und Quälen hat? Wenn es keinen Unterschied zwischen meinem Gehirn und dem von John Wayne Gacy gibt, was genau macht dann den Unterschied aus zwischen mir und diesem Psychopathen?«

Helen Morrison zögerte etwas und wies dann auf eine der fundamentalen Wahrheiten der Neurowissenschaften hin.

»Ein totes Gehirn unterscheidet sich stark von einem lebenden«, sagte sie.»Von außen betrachtet mag das eine Gehirn dem anderen sehrähnlich sehen, aber dennoch können sie völlig unterschiedlich funktionieren. Ausschlaggebend ist, was passiert, wenn die Lichter an sind, nicht, wenn sie aus sind. Gacy war ein so extremer Fall. Ich hatte mich ja gefragt, ob vielleicht noch etwas anderes die Ursache seines Handelns war – irgendeine Verletzung oder Schädigung des Gehirns oder eine anatomis