TEIL ZWEI
Orgasmus
Wie man die innere Energie in Fluss bringt, lernte ich als Kind in einem Einkaufszentrum. Dieses Wissen veränderte meine Beziehung zur Sexualität, zu den Frauen und besonders zum Orgasmus dramatisch.
Ich war ungefähr zwölf Jahre alt – ein ungelenker, zaundürrer Bücherwurm. Eines Tages lieferten meine Eltern meinen besten Freund und mich im Einkaufszentrum ab, wo wir uns nach der Schule oft in einem Buchladen die Zeit vertrieben und alles verschlangen, was wir über übersinnliche Phänomene, Esoterik oder die spirituellen Praktiken anderer Kulturen finden konnten.
An jenem Tag blätterte ich in ein paar Taschenbüchern über tibetische Lamas, die im Himalaja lebten und eine außerordentliche Kontrolle über ihren Körper und ihren Geist hatten. Diese heiligen Männer aus Tibet saßen reglos auf verschneiten Bergen, die nackten Leiber in feuchte Decken gehüllt, die schnell steiffroren. Anschließend tauten sie die gefrorenen Decken wieder auf, indem sie mit ihrem inneren Energiefluss Hitze erzeugten. Sie lebten jahrelang allein in Höhlen und stellten Betrachtungen über ihre wahre Natur reinen Gewahrseins an. Sie übten sich darin, sich dieses reine Gewahrsein auch nachts im Schlaf und im Traum zu bewahren. Sie waren meine Helden.
Ich las gerade in einem dieser Bücher, als ich die Präsenz eines anderen Menschen neben mir spürte. Zu dicht neben mir. Ich wandte mich um und sah einen riesengroßen, dicken und fast gänzlich kahlköpfigen Mann, über dessen stattlichem Bauch sich ein schmuddeliges T-Shirt spannte. Sofort schossen mir Gedanken an die Kinderschänder und Kidnapper durch den Kopf, vor denen mich meine Eltern gewarnt hatten. Mein Herz schlug wild.
»Magst du solche Bücher?«, fragte der Kinderschänder.
Ich schluckte. »Ja«, erwiderte ich. Ich war zu verängstigt, um davonzulaufen, und zu verlegen, um nach Hilfe zu rufen.
»Das sehe ich. Leg deine Hand auf meine Schulter«, befahl er.
Inzwischen hatte mein bester Freund sein Buch weggelegt und war zu mir und diesem merkwürdigen Mann herübergekommen, der wie ein übergewichtiger 65-jähriger Penner aussah. Definitiv ein Perverser, dachte ich.
»Na los«, sagte er. »Leg deine Hand auf meine Schulter.«
Ich hatte ein mulmiges Gefühl. Ich wollte gehen, aber meine Beine waren wie Gummi. Ich stand einfach da, sah diesen Kerl an und war mir sicher, dass er mich entführen oder mir wehtun wollte. Ich fühlte mich hilflos.
Er packte meine Hand und legte sie auf seine Schulter. Ich hatte ein seltsames Gefühl, und plötzlich war es mir peinlich, hier, in diesem Buchladen wie gelähmt mit der einen Hand auf der Schulter dieses Spinners dazustehen, während die vermeintlich normalen Menschen um uns herum wie in Trance ihre Einkäufe erledigten und uns nicht einmal bemerkten. Die ganze Situation fühlte sich unwirklich an, wie ein Traum.
»Und jetzt«, sagte der massige Alte etwas leiser, »schieb.«
Endlich machte ich den Mund auf. »Wie meinen Sie das?«
»Versuch, mich wegzuschieben.«
Ich war so verängstigt, dass ich mich nicht rühren konnte. Ich hatte nicht vor, einen wildfremden Menschen zu schubsen, den ich noch nicht einmal anrühren wollte.
Er packte meinen Arm und zog, als wollte er mir zeigen, was ich tun sollte. Na gut, entschied ich. Was konnte bei so einem kleinen Schubs schon groß passieren? Wenn der Kerl Sperenzchen machte, konnte ich um Hilfe rufen. Das Einkaufszentrum war voller Leute, die mir zur Seite stehen würden. Zumindest hoffte ich das.
Ich schob.
»Fester«, sagte er.
Also schob ich fester. Er rührte sich nicht.
»Schieb so fest du kannst«, sagte er.
Ich schob. Ich strengte mich wirklich an. Ich schob so fest ich konnte. Er rührte sich keinen Zentimeter. Er rührte sich nicht einmal den Bruchteil eines Zentimeters.
»Ich stelle mich jetzt auf ein Bein. Schieb so fest du kannst.«
Er ging in die Knie und hob ein Bein vom Boden. Meine Hand lag immer noch auf seiner Schulter. Ich wollte den Kerl nicht umschubsen und ihm wehtun, selbst wenn er pervers war. Also versetzte ich ihm nur einen kleinen Stoß. Dann drückte ich fester. Schließlich schob ich mit der ganzen Kraft eines Teenagers. Er schwankte nicht einmal.
Er lächelte und sah mir tief in die Augen. Mir wurde klar, dass etwas Seltsames vor sich ging.
Ohne den Blick von mir zu wenden, ergriff er meinen anderen Arm am Handgelenk und legte meine Hand auf seine freie Schulter. Nun lagen meine beiden Hände auf seinen Schultern, und er stand noch immer auf einem Bein. Wieder sagte er, ich solle versuchen, ihn umzustoßen.
Inzwischen hatte ich weniger Angst, war aber immer noch misstrauisch. Und ich wollte verdammt sein, wenn es mir nicht gelingen würde, diesen Typen umzuschubsen. Ich stellte beide Füße fest auf den Boden, suchte mein Gleichgewicht, lehnte mich gegen ihn und schob so fest ich konnte. Ich hatte das Gefühl, gegen eine Marmorwand zu laufen. Schließlich gab ich auf und na