1.
Sanftes Schaukeln, fast wie in einer Wiege. In Ernsts Ohren das Singen der Räder und der Takt, den die Hufe machen. Helles Licht wie Zuckermilch in der Luft. Die Haferfelder riechen nach Kraft und Großwerdenwollen. Ernst kann sie wachsen hören, sie knistern und wispern beim Strecken, und wenn man die unreifen Körner in den Mund steckt – Mutter sagt, das darf man nicht, weil man sonst krank wird, aber er tut’s trotzdem manchmal -, schmecken sie nach weichem Teig und Wärme und Regen.
Die Haferstängel werden bewacht von Mohn, ein roter Gürtel um das Feld, sie passen auf, dass niemand sie beim Wachsen stört. Ernst schaut hinten aus der halb offenen Plane. Das Feld hüpft und tanzt vor seinen Augen, er kann die Kieselsteine hören, sie halten die Luft an und stöhnen, wenn die harten Wagenräder über sie drüberrollen, und dann, wenn alles vorbei ist, atmen sie aus und seufzen leise.
Malchen und Nanna schlafen, sie sind noch klein und müssen viel schlafen, weil das Herumtollen und Schreien so anstrengend ist. Mutter schläft auch. Ihr geht es nicht gut, sie hat einen dicken Bauch und sieht krank aus. Aber sie jammert nicht, Mutter hat noch nie gejammert.
Ernst ist schon groß, nicht so groß wie Vater – der sitzt vorne und ist so stark, dass er mit einer Hand das Pferd halten kann -, aber viel größer als Malchen und Nanna. Ernst wird bald vier.
Anna ist die Kleinste, ist gerade ein Jahr alt geworden. Sie heißt so wie Mutter und hat schon jetzt dieselben Haare, noch nicht so lang, aber genauso dunkelbraun und dicht. Und sie hat dieselben großen braunen Augen, mit denen sie ständig neugierig alles untersucht. Alle nennen sie Nanna, weil sie zu sich selbst Nanna sagt. Meistens krabbelt sie durch die Gegend und frisst alles Mögliche, was sie am Boden findet, und Ernst muss es ihr aus dem Mund pulen.
Amalie ist zwei und sie plappert die ganze Zeit vor sich hin. Sie wird Malchen genannt, weil das schöner klingt als Amalie. Sie hat die blonden Haare vom Vater und das Näschen von Mutter bekommen. Wenn sie geht, ist ein Beinchen langsamer als das andere, irgendwas ist schief, sie watschelt und wackelt dabei mit dem Kopf. »Die Hüfte«, sagt Mutter, »aber das verwächst sich.« Trotzdem ist Malchen die Lustigste von allen. Wenn sie lacht, kann keiner mehr böse sein.
Ernst schafft meistens nur ein Grinsen, oft nicht mal das. »Das hat er von seinem Großvater«, sagt Mutter, »das Melancholische.« Deshalb hat er auch den Namen von Großvater, Ernst. Aber von ihm sprechen sie nicht oft, weil er die Großmutter mit neun Kindern hat sitzen lassen und mit einer anderen Frau weggegangen ist. Die Onkel und Tanten sagen alle, wenn sie den Jungen sehen: »Ganz der alte Lossa, die gleiche breite Nase und diese großen Elefantenohren.« Ernst kennt den Großvater nur von einem Foto und findet, dass er ihm überhaupt nicht ähnlich ist. Der Alte schaut streng und mürrisch drein. Direkt unter der Nase hat er ein schmales Bärtchen, was jetzt Mode ist, weil es der Führer* hat, der auf allen Plakaten zu sehen ist. Ernsts Vater findet es scheußlich, er mag den Führer nicht und deswegen rasiert er sich auch immer ganz gründlich.
Ernst macht sich Sorgen wegen seiner Ohren. Täglich prüft er, ob sie größer geworden sind. »Wenn die weiter wachsen, sehe ich wirklich mal aus wie ein Elefant und werde im Zirkus herumgezeigt.« Und dann zieht auch noch sein Vater dran herum, wenn er was angestellt hat. Er wünschte, er hätte auch so kleine Ohren wie Nanna und Malchen, oder lange Haare, die die Ohren verdecken. Aber seine Haare müssen immer ganz kurz sein wegen der Läuse. Überhaupt wäre er manchmal lieber ein Mädchen. Die beiden dürfen immer bei Vater auf dem Schoß sitzen, und er lässt ihnen alles durchgehen, während es bei ihm gleich was setzt, wenn er frech ist. Dafür ist er der Große, sagt Mutter immer, und dann lächelt sie, wie nur sie lächeln kann, ganz allein mit den Augen macht sie das, dunkelbraunes Knopffunkeln, und das ist fast so schön wie Streicheln. Ernst ist der Große, er passt auf die beiden Mädchen auf, damit sie nicht weglaufen oder Erdklumpen in den Mund stecken oder unter dem Pferd herumkriechen oder ihre Hände ins Feuer strecken, er darf sogar manchmal vorne auf dem Bock sitzen und die Zügel halten.
Mutter sagt, Ernst ist ein Geschenk, weil er eine Woche nach ihrem Geburtstag auf die Welt kam. Sie wurde zwanzig und er war praktisch ihr verspätetes Geburtstagsgeschenk. Das war vor vier Jahren, 1929. Ein schlechtes Jahr, ein armes Jahr, in dem die Geschäfte des frisch verheirateten Paares mehr als lausig waren. »Das einzig Gute warst du, Ernstl«, erzählt Mutter immer, »ein Fingerzeig Gottes, ein Glücksstern.« Weil genau an ihrem Geburtstag damals in Amerika der Schwarze Freitag* war und alle Angst hatten. »Doch dann kamst du«, lächelt Mutter, »und wir dachten nicht mehr an die Angst, sondern sagten, du bist ein Zeichen, dass es jetzt wi