Eigenverantwortung haben immer die Anderen
:
Bettina Schmidt
:
Eigenverantwortung haben immer die Anderen
:
Hogrefe AG
:
9783456945521
:
1
:
CHF 19.70
:
:
Geisteswissenschaften, Kunst, Musik
:
German
:
231
:
Wasserzeichen/DRM
:
PC/MAC/eReader/Tablet
:
PDF
Betti a Schmidt
Eigenverantwortung haben immer die Anderen
Der Verantwortungsdiskurs im Gesundheitswesen
2008. 230 S., Kt
ISBN: 978-3-456-84552-4
Ist mehr Verantwortung für die eigene Gesundheit immer besser?
Das Fördern und Fordern von Eigenverantwortung ist zentrale Zielsetzung zahlreicher gesundheitspolitischer Anstrengungen, um Menschen zu mehr Gesundheit zu aktivieren. Aber wer kann diese Verantwortung überhaupt leisten? Neben konzeptionellen und begrifflichen Präzisierungen werden Chancen und Risiken von Eigenverantwortung für die Gesundheit sowie für das Gesundheitswesen dargestellt und funktionierende Möglichkeiten zur Verbesserung der Bevölkerungsgesundheit erörtert.
Gesundheitsw ssenschaften - Einführungen und Übersichten Prävention und Gesundheitsförderung
5. Eigenverantwortung im Gesundheitswesen
(S. 73-74)
Die Agenda 2010, seit der die Aktivierung der Bevölkerung massiv vorangetrieben wird und die auf das Fördern und Fordern setzt, wurde auch im Gesundheitswesen verankert. Dies geschieht bislang implizit, noch niemand hat explizit formuliert, dass Gesundheit nicht nur gefördert werden soll, sondern auch gefordert werden muss. Gesundheit zu fördern und zu fordern geschieht überwiegend mittels Appellen an die Gesunden und Kranken, verstärkt Eigenverantwortung zu übernehmen für langfristigen Gesundheitserhalt und nachhaltige Gesundheitsverbesserung.
5.1 Eigenverantwortung als Gesundheitsreforminstrument
Seit rund 30 Jahren inszeniert sich Gesundheitspolitik als Kostendämpfungspolitik und befasst sich damit, die Ausgaben im Gesundheitswesen zu senken, genauer gesagt, die Kosten anders zu verteilen. Politisches Ziel des Umbaus im Gesundheitswesen ist nicht primär, dass der Staat sich zunehmend aus der Versorgung herauslöst, sondern nur partiell Verantwortungen verschiebt. „Der Staat zieht sich zum Beispiel aus der direkten Leistungserbringung zurück und ‚kommt wieder als Regulierer’, damit die nun privat erbrachten Leistungen weiterhin den staatlichen Zielvorstellungen entsprechen" (Wendt et al., 2007, S. 3). Bauch (2004) erkennt – abgesehen von den Kostenverlagerungsinteressen – in diesem janusköpfigen Umbau das Bestreben von Politik, auch in Zeiten staatlichen Rückbaus die eigene Daseinsberechtigung zu legitimieren. Doch wenn Verantwortung vom Staat in Privathaushalte und Privatwirtschaft abgegeben werden soll, verringert sich parallel die Existenzberechtigung des geschrumpften Staatsapparats. Durch die Verlagerung staatlicher Aufgaben von monetären (z.B. Bereitstellung von Gütern und Dienstleistungen) in ideelle (z.B. Propagierung von krankheitsvermeidenden Erziehungsbotschaften) Strategien soll die Legitimationsgrundlage des Staats kostenlos gewährleistet werden. „Abzusehen ist, dass die materialen, geldwerten, staatlichen und parastaatlichen Gesundheitsleistungen eingeschränkt werden und gleichzeitlich die staatlich induzierten gesundheitsrelevanten Gesundheitszumutungen im Sinne einer ‚Saluto-Correctness’ wachsen" (S. 158).
Die Privatisierung von Gesundheitskosten gilt als ein wesentliches Instrument zur Behebung der Finanzmisere im Gesundheitssystem (Gerlinger, 2004). Dem initialen „Krankenversicherungskostendämpfungsgesetz" von 1977 folgten zahlreiche weitere Gesetze, alle vordringlich der Ausgabenpolitik verschrieben (Busse&, Riesberg, 2005). Mit Ausnahme des 1999 von der rot-grünen Regierung als Übergangsgesetz implementierten GKV-Solidarisierungsgesetzes, das stärker auf Kollektiv- als auf Eigenverantwortung setzte, bauten alle übrigen Gesetze – Gesundheitsstrukturgesetz (1992), Beitragsentlastungsgesetz (1996), das 1. und 2. GKV-Neuordnungsgesetz (1997), die GKV-Gesundheitsreform (2000) sowie das GKV-Modernisierungsgesetz (2004) – beständig die Eigenverantwortung aus (Meier, 2004). Eigenverantwortung wurde realisiert mittels Finanzierungs- und Eigenleistungsverantwortung, aber auch mittels Wahl- und Entscheidungsverantwortung, z.B. im Hinblick auf Kostenerstattung, Beitragsrückgewähr, Teilnahmemöglichkeiten an besonderen Versorgungsmodellen, Wahlleistungen und Wahltarifen. Gewöhnt haben sich die PatientInnen inzwischen an Praxisgebühr, Zuzahlungen zu Medikamenten, Heil- und Hilfsmitteln, Eigenbeteiligungen bei Krankenhausaufenthalten und zusätzlichen Versicherungsleistungen, Privatisierung der Zahnersatzleistungen sowie an monetäre und nichtmonetäre Anreize zur Verbesserung des präventiven Verhaltens, beispielsweise in Form von Bonusprogrammen.
Das Gesundheitsmodernisierungsgesetz von 2004 gilt als Meilenstein, mit dem die Privatisierung der Gesundheitsleistungen in einem bisher nicht gekannten Ausmaß vorangetrieben wurde (Aust et al., 2006). Das aktuelle GKVWettbewerbsstärkungsgesetz, das am 1.4.2007 in Kraft trat, schreibt diesen Trend fort. Verantwortung und Kosten werden von öffentlichen Haushalten, von Versicherungen und vom Gesundheitswesen in Privathaushalte, d.h. zu den Versicherten transferiert. Das aktuelle Gesetz sieht vor allem folgende Neuerungen (Weller&, Meyers-Middendorf, 2007) vor: Eine allgemeine Versicherungspflicht wird eingeführt.
Inhaltsverzeichnis
6
1. Der unausgewogene Diskurs zur Eigenverantwortung
10
2. Begriff und Konzept von Verantwortung
16
2.1 Die historische Prägung von Verantwortung
17
2.1.1 Christliche Verantwortung vor Gott
17
2.1.2 Säkulare Verantwortung vor Gericht
18
2.1.3 Moralische Verantwortung vor sich selbst und der Gemeinschaft
19
2.2 Verantwortung als Verpflichtung auf die Zukunft
21
2.2.1 Prospektiv gedehnte Verpflichtung
22
2.2.2 Positiv gedehnte Verpflichtung
23
2.2.3 Grenzenlose Verantwortung – beschränkt auf den Einzelnen
25
2.3 Die Zurechnungsprozedur von Verantwortung
28
2.3.1 Einfache Formen der Verantwortungszuweisungen
28
2.3.2 Zurechnungsprozeduren in der komplexen Moderne
29
2.4 Das Subjekt der Verantwortung
30
2.4.1 Voraussetzungen der Verantwortungszurechnung
31
2.4.2 Der Homo oeconomicus als Verantwortungssubjekt
33
2.4.3 Annahme und Abwehr von Subjektverantwortung
35
2.5 Das Objekt der Verantwortung
35
2.5.1 Verantwortung für Handlungen
36
2.5.2 Verantwortung für Handlungsfolgen
36
2.6 Wer wem? Konstruktion der Verantwortungssubjekte und - objekte
38
2.6.1 Verantwortungszurechnungen im formalisierten Rechtssystem
38
2.6.2 Die Macht der Verantwortungszuweiser
39
3. Verantwortung privatisiert – Eigenverantwortung
42
3.1 Die politisch-praktische Anwendung von Eigenverantwortung
42
3.1.1 Eigenverantwortung für einen schlanken Staat
42
3.1.2 Eigenverantwortung nur für (potenzielle) PatientInnen
44
3.1.3 Eigenverantwortung als subsidiäre Solidarität
45
3.1.4 Eigenverantwortung als verpflichtendes Recht
47
3.1.5 Eigenverantwortung als privatisierte Politik
48
3.2 Die begrifflich-inhaltliche Verwendung von Eigenverantwortung
50
3.2.1 Verantwortung für und vor sich selbst und einander
51
3.2.2 Eigenverantwortung als Gesundheitsrecht und -pflicht
52
3.2.3 Eigenverantwortung als Gesundheitsver