Teil II
Erfrorene Stadt
»Dort liegt Jarlaith.«
Als Morgwen auf dem Kamm eines steilen Abhangs stehen blieb und nach Süden wies, hatte die Sonne den Zenit schon um mehr als die Hälfte des Horizontbogens überschritten. Erschöpft ließ Cassim sich in den Schnee fallen.
In den vergangenen Tagen hatte ihre Welt aus gleißendem Weiß bestanden, auf dem Wolken und Sonne Schattenbilder malten und Farbenspiele in Gold, Feuer und tiefem Blau zauberten.
Es war durch unwegsame Winterwälder gegangen, deren Äste sich unter ihrer weißen Last bis auf den schneebedeckten Boden bogen. Zuweilen hatten scharfe Böen fast mannshohe Wehen aufgetürmt und den Untergrund freigelegt, der immer öfter aus mit Eis überzogenem Geröll bestand. Morgwen hatte sie durch kaltfeuchten Nebel in Höhen geführt, in denen die Luft so dünn war, dass das Atmen schmerzte. Mehr als einmal hatten sie über eine glitzernde Wolkendecke geblickt, die von dem Licht der versinkenden Sonne mit Flammen überzogen wurde und aus der schroffe Berggipfel emporragten. Manche waren mit blendendem Weiß bedeckt gewesen, andere von rotem Gold übergossen. Schatten waren kalt an der einen Seite der Hänge hinabgeflossen, während die andere in Brand zu stehen schien. Feuer und Eis waren über sie hinweggetanzt, bis die Sonne endgültig unter der Decke aus Nebel und Wolken verschwunden war.
Immer wieder war es in tiefem Schnee über steile Abhänge gegangen. Nur vereinzelt hatte ein Felsen oder ein verkrüppelter Baum aus dem Weiß emporgelugt, das die Sonne in unerträgliches bleiches Gleißen verwandelte.
Zerklüftete Bergflanken hatten sich um sie her trotzig in den Himmel gereckt, während sie hintereinander im schneidenden Wind auf schmalen Felsgraten entlangstapften. Zuweilen waren mächtige Bergadler hoch über ihnen dahingeglitten oder die weißgrauen, zotteligen Gestalten von Raugämsen waren über die Felswände gehuscht. Das helle Klacken ihrer Hufe hatte weit durch die klare Luft gehallt. Fernes Grollen, das sich zu einem ohrenbetäubenden Donnern steigerte, hatte von Lawinen gekündet, die sich irgendwo erbarmungslos in die Tiefe wälzten. – Und nun glitzerte dort in der Ferne, im Tal von Temair, eine gigantische Eismoräne im Sonnenlicht. Der Schlund des Gletschertores gähnte über der funkelnden Oberfläche eines zugefrorenen Flusses. In eisigem Blitzen ragten die Pfeiler einer Brücke aus ihm empor, auf der sich ein bunter Strom Reisender mit ihren Wagen und Tieren bewegte. Im ersten Augenblick war Cassim verwirrt, doch dann begriff sie: Die Stadt lag tief im Inneren der Moräne verborgen.
»In drei Stunden sollten wir die goldene Brücke erreichen.«