: Hermann-Josef Fisseni
: Lehrbuch der psychologischen Diagnostik
: Hogrefe Verlag Göttingen
: 9783840917561
: 3
: CHF 34.00
:
: Grundlagen
: German
: 453
: Wasserzeichen/DRM
: PC/MAC/eReader/Tablet
: PDF

Welche Leistungen muss ein Psychologe erbringen, wenn er eine diagnostische Aufgabeübernimmt und sie in Intervention umsetzen will? Die dritte,überarbeitete und erweiterte Auflage des erfolgreichen Lehrbuches gibt Antworten auf diese Frage. Das Buch ist mittlerweile als Standardwerk in der Aus- und Weiterbildung sowie für die praktische Tätigkeit diagnostisch tätiger Psychologen etabliert. Das Lehrbuch umreißt Herkunft, Eigenart und Aufgabenfelder von Diagnostik und Intervention und charakterisiert ihren sozialen, finalen und ethischen Kontext. 

Es informiertüber diagnostisches und interventives Basiswissen, z.B.über die klassische Testtheorie, die Verhaltensbeobachtung und Grundgedanken des Rasch-Modells. Spezielle Einzelverfahren und deren Verwendung in Diagnostik und Intervention werden erläutert. Eine Vielfalt diagnostischer Einzelfragen wird diskutiert, wie z.B. die Schätzung von Nutzen und Kosten diagnostischer Arbeit und die Möglichkeiten und Grenzen der Erfolgs- und Prozesskontrolle. Erörtert werden auch die Anforderungen an eine fachgerechte Ausführung diagnostisch-interventiver Arbeit und ihre ethisch-juristische Einbindung. Aktuell wird hier auch auf die Rolle der DIN 33430, die Leitlinien zu berufsbezogenen Eignungsbeurteilungen festlegt, eingegangen. An Beispielen aus der Praxis wird schließlich die Integration multimethodalen Vorgehens veranschaulicht: Aktuelle Hinweise finden sich z.B. zur Erstellung psychologischer Gutachten oder zur Antragserstellung bei Verlängerung einer Psychotherapie. Beschrieben werden Prozeduren der Personalauswahl und -entwicklung, insbesondere im Assessment-Center. Kapitel zur Entwicklungsdiagnostik und zur Glaubhaftigkeitsbeurteilung wurden in der Neuauflage ergänzt.  

7 Verhaltensbeobachtung (S. 129-130)

Psychologie als empirische Wissenschaft definiert sichüber die Verhaltensbeobachtung. Insofern geht Verhaltensbeobachtung in jedes psychologische Handeln ein, auch in jeden diagnostischen Schritt. Abgehoben von dieser Basisfunktion, erhält Beobachtung in Diagnostik und Intervention eine eigene Bedeutung. Ein Diagnostiker kann situative Begleiterscheinungen einer Untersuchung beobachten und registrieren.

Zwei Beispiele:

(1)
Ein Gespräch zieht sichüber anderthalb Stunden hin; an dem Probanden werden Zeichen von Anstrengung, von Ermüdung sichtbar, diese Anzeichen (vom Diagnostiker beobachtet) könnten später hilfreich sein bei einer Interpretation des Gespräches.

(2) Ein Proband bearbeitet die Sortieraufgaben eines Tests. Während er die„Steine" zu dem vorgegebenen Muster legt, entwickelt er eine„kluge" Strategie, die zu erfassen die Testinstruktion nicht vorgesehen hat; der Diagnostiker kann diese Strategie beobachten und in seine Bewertung des Testresultates einbeziehen. In diesem Kapitel sprechen wirüber die zweite Konzeption von Beobachtung. Es geht um Beobachtung als ein Verfahren neben anderen diagnostischen Verfahren, nicht um Beobachtung als Basis aller psychologischen Methoden.

Den Stoff gliedern wir in acht Teilkapitel:

– Abgrenzungen (Definitionen) (Kap. 7.1),
– Festlegung von Beobachtungseinheiten (Kap. 7.2),
– Einteilung der Verhaltensbeobachtung (Kap. 7.3),
– Auswertung von Verhaltensbeobachtungen (Kap. 7.4),
– Beitrag zu Diagnostik und Intervention (Kap. 7.5),
– Einfluss- und Verzerrungstendenzen (Kap. 7.6),
– Vor- und Nachteile der Verhaltensbeobachtung (Kap. 7.7),
– zu den Gütekriterien der Verhaltensbeobachtung (Kap. 7.8).

7.1 Abgrenzungen (Definitionen)

Was heißt beobachten? Beobachten heißt, Ereignisse, Vorgänge oder Verhaltensweisen sorgfältig wahrnehmen und registrieren (Dorsch, 1994, 100; Faßnacht, 1995, 67–70; Huber, 1989, 124; Kaminski, 1977, 68–73; Selg& Bauer, 1971, 42). In Diagnostik und Intervention ist diese Wahrnehmung„unmittelbar und ausschließlich auf die psychologische Frage nach der Eigenart der individuellen Persönlichkeit gerichtet" (Hasemann, 1983, 435).

„Unter wissenschaftlicher Beobachtung wird…die zielgerichtete und methodisch kontrollierte Wahrnehmung von konkreten Systemen, Ereignissen (zeitlicheÄnderungen in konkreten Systemen) oder Prozessen (Sequenzen von Ereignissen) verstanden" (Huber, 1989, 124). In dieser Umschreibung heißt der Oberbegriff Wahrnehmung. Er deckt alle Arten sinnlicher Erfassung ab; Beobachten besagt demnach, menschliches Verhalten durch Sinneswahrnehmung erfassen: etwa durch Hören, Sehen, Tasten. In der Praxis dürfte sich die Verhaltensbeobachtung vorrangig auf eine Wahrnehmung mit Auge und Ohr beziehen, oft vermittelt durch spezielle Messinstrumente. Beobachtung bezeichnet eine besonders aufmerksame Wahrnehmung, die sich kontrolliert auf ihren Gegenstand richtet und das Ziel hat, eine genaue Kenntnis ihres„Gegenstandes" zu vermitteln. Hauptgegenstand der Beobachtung sind in der Diagnostik– erstens Verhaltensweisen, die bei vielen Verfahren nicht eigens registriert werden, aber diagnostisch relevant erscheinen (z. B. Kommentare, die ein Proband zu den Items eines Fragebogens abgibt),– zweitens Verhaltensausschnitte, die eigens für die Beobachtung ausgewählt werden (z. B. eine Interaktionssequenz zwischen Mutter und Kind). Selbst- und Fremdbeobachtung Jede Beobachtung schließt Selbst- und Fremdbeobachtung ein.

Selbstbeobachtung (oder Introspektion) bezeichnet den Vorgang, in dem ein Beobachter sich selbst mit-wahrnimmt; die Selbstgegebenheit wird Mit-Gegenstand seiner Wahrnehmung; er„sieht" oder„hört" oder„fühlt" neben anderen Personen und Sachen auch sich selber. Fremdbeobachtung bezeichnet die aufmerksame Wahrnehmung„anderer" Sachen oder Personen, die mit dem Beobachtenden nicht identisch sind. Selbst- und Fremdbeobachtung sind einander komplementär zugeordnet:Wo keine Selbstbeobachtung, dort keine Fremdbeobachtung; wo Fremdbeobachtung, dort immer auch Selbstbeobachtung.

Dies gilt in einem mehrfachen Sinne:

– Fremdbeobachtung schließt als mitlaufenden Prozess das Mitbemerken des beobachtenden Subjektes ein.

–Über den„Gegenstand" einer Fremdbeobachtung kann sich ein einzelner Beobachter nur dann mit einem anderen Beobachter verständigen, wenn der„Gegenstand" in seiner Selbsterfahrung„vorkommt"

– wenigstens in Erfahrungsspuren vorkommt. Einen„Gegenstand", welcher der Selbstbeobachtung eines Beobachters völlig fremd wäre, könnte er nicht im Sinne einer Fremdbeobachtung„wahrnehmen"– er könnte keine„Wahrnehmungsgestalt" bilden. (Ein Therapeut, der noch nie eine Spur von Angst verspürt hätte, wäre unfähig, bei seinem Klienten die Anzeichen von Angst wahrzunehmen und zu deuten.)

– Jede Beobachtung orientiert sich als Wahrnehmung an Gesetzen, die selber nicht auf Beobachtung gründen, weil jede Selbst- und Fremdbeobachtung sie schon voraussetzt.