Schloss der Fremden
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Helga Diel, El Bardanohi
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Schloss der Fremden
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Lambertus Verlag
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9783784114040
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1
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CHF 7.80
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Pflege
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German
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117
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DRM
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PC/MAC/eReader/Tablet
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PDF
"Geschichten einer entfremdeten Welt" hat der Ägypter El Bardanohi seine Beobachtungen genannt. Entfremdet, weil sie von den Bewohnern eines Heims für geistig behinderte Menschen handeln, die aus der Gesellschaft ausgeschlossen leben. Es sind Geschichten einer"Kultur von nebenan", deren Akteure in Wirklichkeit jedoch weit weg sind, obwohl sie mitten unter uns leben, die der Autor in sieben Jahren gesammelt hat. Bearbeitet hat sie die Ethnologin Helga Diel, die als Trainerin für interkulturelles Management arbeitet. Es sind Begebenheiten aus dem Heim, das der Autor"Schloss" nennt - lakonisch geschilderte Beobachtungen, alltägliche Gespräche und knappe Portraits, die ein Schlaglicht auf die Lebenssituation von Bewohnern und"Schlossangestellten" werfen.
Die Autoren
Helga Diel ist in Hamburg geboren und auf den Philippinen und in Deutschland aufgewachsen. Ein freiwilliges soziales Jahr führte sie in die Arche, einer Lebensgemeinschaft mit Menschen mit geistiger Behinderung, nach Frankreich. Seit ihrem Studienabschluss der Ethnologie, Religionswissenschaft und Linguistik arbeitet sie als Trainerin für interkulturelles Management und als freie Referentin zu Themen des Rechtsextremismus, der gewaltfreien Konfliktlösung und der Integration von Migranten und Migrantinnen.
El Bardanohi ist in El Minia, Ägypten, aufgewachsen. Nach seinem Lehramtsstudium gründete er mit Freunden eine Sonderschule. 1990 ging er in die Arche nach Frankreich. Dort absolvierte er eine heilpflegerische Ausbildung. Seit 1993 lebt er mit seiner Familie in Deutschland und arbeitet in einem Heim für Menschen mit geistiger Behinderung.
Bild der Verantwortung
(S. 58-59)
Nach § 823 des BGB ist gesetzlich festgelegt, dass die Aufsichtspflicht grundsätzlich zwei Verpflichtungen umfasst:
(1) den Aufsichtsbedürftigen selbst vor Schaden zu bewahren, die ihm durch sein eigenes Verhalten oder von außen drohen;
(2) die Verpflichtung, Dritte vor Schaden zu bewahren, die ihnen von dem zu Beaufsichtigen zugefügt werden können.
Sobald Herr von Sein um 6.30 Uhr die Augen öffnet und seine Füße auf den Boden stellt, beginnt die Aufsichtspflicht des Schlossangestellten. Herr von Sein soll sich duschen, der Schlossangestellte stellt sicher, dass das Wasser nicht zu heiß ist – Herr von Sein könnte sich verbrennen. Dann soll Herr von Sein sich die Zähne putzen, der Mitarbeiter kontrolliert das Ergebnis – der Zahnarzt könnte wieder etwas über die schlechten Zähne sagen. Schließlich muss Herr von Sein die Kleider wechseln und sich kämmen. Der Mitarbeiter schaut noch einmal nach, ob alles sauber ist, der Witterung entspricht und Herr von Sein sich auch wirklich gekämmt hat.
Neben der Beaufsichtigung der anderen Schlossbewohner, bereitet der Mitarbeiter das Frühstück gemeinsam mit einem der Bewohner vor. In der Küche achtet er darauf, dass die zahlreichen Gefahren, das heiße Wasser für den Tee oder Kaffee, die Brotschneidemaschine und die Küchenmesser, den helfenden Schlossbewohner nicht verletzen. Den Tisch vorbereiten und nach dem Essen wieder aufräumen, Vesperbrote richten und verpacken und das Taschengeld austeilen, sind sowieso seine Arbeit. Die Medikamente kontrolliert der Mitarbeiter mehrere Male, bevor er sie verteilt, – es könnte eine falsche Tablette ausgegeben werden. Beim Austeilen geht er sicher, dass sie geschluckt und nicht versteckt oder weggeworfen werden. Nachdem Herr von Sein mit seiner Morgentoilette fertig ist, geht er zum Frühstück. Der Schlossangestellte überzeugt sich davon, dass Herr von Sein sein Essen schluckt und es nicht in die Backen schiebt und nach einer Weile wieder ausspuckt.
Anschließend begleitet der Mitarbeiter Herrn von Sein und eine andere Bewohnerin, die inzwischen schon zum zweiten Mal am Morgen in die Hose gepinkelt hat, zum Bussle, das die Schlossbewohner zu ihrem Arbeitsplatz bringt. Der Mitarbeiter wartet mit den Bewohnern bis das Bussle kommt, er weiß nicht, was sonst geschehen könnte: Herr von Sein könnte plötzlich abhauen wollen, die Bewohnerin könnte eine Krise bekommen oder sie könnten sich in einen Streit verwickeln. Dann hieße es: „Herr Schlossmitarbeiter, Sie haben ihre Aufsichtspflicht verletzt – warum haben Sie nicht mit den beiden an der Haltestelle gewartet". Gleichzeitig sind sieben andere Schlossbewohner in der Wohngruppe und stehen auch unter der Aufsichtspflicht des Mitarbeiters. Der Schlossangestellte wird beim Warten immer unruhiger und ist erleichtert, als das Bussle endlich kommt und Herr von Sein und die Bewohnerin hineingesetzt und angeschnallt werden. Das Bussle fährt los. Von diesem Zeitpunkt an trägt der Zivildienstleistende die Verantwortung für die Schlossbewohner – bis zur Werkstatt.
In dem Moment, in dem Herr von Sein seinen Arbeitsplatz betritt, hat der dort zuständige Mitarbeiter die Aufsichtspflicht. Herr von Seins Aufgabe ist es, jeweils zehn Schrauben in die dafür vorgesehene Verpackung zu füllen. Hierfür muss er immer wieder aufstehen und zu einem großen Container laufen, in dem die zu verpackenden Schrauben gelagert werden. Der Werkstattmitarbeiter achtet darauf, dass in Krisensituationen die Schrauben nicht als eine Waffe gegen Mitarbeiter oder dort arbeitende Schlossbewohner gerichtet werden oder dass einer der Container umkippt. Um 16.00 Uhr ist Feierabend für Herrn von Sein und die anderen Schlossbewohner. Herr von Sein wird wieder vom Bussle zum Schloss zurückgebracht, wo der Schlossangestellte aus der Spätschicht bereits im Hof auf ihn wartet, um ihn mit auf die Wohngruppe zu nehmen und die Aufsichtspflicht wieder zu übernehmen.
Inhalt
6
Anamnese
10
Einleitung
12
Bild des Denkmals
13
Zur Kenntnis
15
Bild der Tankstelle und der Videothek
16
Die Bundesstraße
18
Bild des Schlosshofes
19
Fundsache
20
Die Schlosstauben
21
Eine interne Mitteilung
25
Bild eines Leitbildes
26
Klärungsbedarf
27
Türen und die Schlüssel
28
Bedauerlicherweise
29
Bild eines Dialogs
30
Milch
32
Bild des Büros
33
Nicht gefunden
35
Portrait: Frau von zu Fuß
36
Kaffee oder Tee?
38
Bilder aus einer Akte
39
Lektion
41
Portrait: Frau von Kann
42
Einverstanden
44
Bild einer Stunde
45
Hast du mich lieb?
48
Bilder des Kontakts
49
Protokoll der Gruppenleitersitzung vom 23. Mai
53
Portrait: Frau von Lieb
54
Tote Bilder
56
Bild eines Spiegels
57
Gründlich
59
Bild der Verantwortung
60
Integration
63
Bild eines Freiwilligen Sozialen Jahres (FSJ)
64
Guten Morgen
65
Bild einer Therapie
66
Anamnese
68
Bild der Sexualität
69
Toiletten
72
Bild des Protokolls
73
Die Leitungskonferenz
74
Szenario
76
Ausweis
78
Bild ohne Titel
79
Mensch Ärgere Dich Nicht
81
Doppelbild eines Lebens
82
Der Psychiater
85
Ausreden für das „zu spät Kommen“
86
Altpapier
87
Bild eines „Zuviel“
88
Was machen wir jetzt?
89
Bild eines Mitarbeitertages
90
Unfall
94
Bild des geteilten Dienstes
95
Bienen
97
Bild der Hierarchie
98
Begrüßung
102
Bild des Todes
103
Nur zur Information
106
Bild des Selbst
107
Hitler ist nicht tot
108
Bild der Möglichkeiten
109
Aktennotiz
111
Bild eines Festes
113
Kur
114
Portrait: Der Fallende
115
Die Autorin und der Autor
118