: Ulrich Stangier, Thomas Fydrich
: Soziale Phobie und Soziale Angststörung
: Hogrefe Verlag Göttingen
: 9783840914638
: 1
: CHF 29,20
:
: Sonstiges
: German
: 425
: Wasserzeichen/DRM
: PC/MAC/eReader/Tablet
: PDF
In diesem Band werden von namhaften Autorinnen und Autoren aus dem In- und Ausland die aktuellen Erkenntnisse zu Ursachen, Diagnostik und Therapie der Sozialen Phobie erstmals in deutscher Sprache zusammengefasst.

Der Band enthält Darstellungen zu den wichtigsten kognitiv-behavioralen, neurobiologischen und psychodynamischen Störungskonzepten. Es werden psychophysiologische Grundlagen sowie die Rolle von sozialen Kompetenzdefiziten beschrieben und psychologische Störungsmodelle vorgestellt, die wesentliche Befunde integrieren.

Ferner werden aktuelle Daten zu Epidemiologie und Komorbidität berichtet und ein Überblick über spezifische Ansätze der Diagnostik gegeben. Der Behandlungsteil des Buches widmet sich ausführlich dem aktuellen Stand der Therapieforschung wie auch dem praktischen Vorgehen bei der kognitiv-behavioralen Therapie.

In gesonderten Beiträgen wird die Behandlung unter dem Aspekt der Allgemeinen Psychotherapie beleuchtet und auch über den Einsatz von Psychopharmaka informiert. Darüber hinaus wird auf spezielle Aspekte bei Selbstunsicherer Persönlichkeitsstörung sowie bei Kindern und Jugendlichen mit Sozialer Phobie eingegangen.  
Risikofaktoren in der Kindheit für Soziale Phobien im Erwachsenenalter (S. 246-247)

Jens B. Asendorpf

Gibt es Risikofaktoren in der Kindheit, also im Alter von etwa 2 bis 12 Jahren, für die Entwicklung Sozialer Phobien im Erwachsenenalter? Dieses Kapitel gibt eine Übersicht über die klinische, aber auch die nichtklinische persönlichkeits- und entwicklungspsychologische Literatur zu diesem Thema. Dies liegt zum einen am Verfasser, der sich aus persönlichkeits- und entwicklungspsychologischer Perspektive mit der Entwicklung von leichter Schüchternheit bis hin zu subklinischer sozialer Ängstlichkeit vom Kindesalter bis zum jungen Erwachsenenalter befasst hat (z. B. Asendorpf, 1989a,b; 1990; 1993; 1998), zum anderen aber auch am Thema selbst, denn die meisten psychischen Störungen im Erwachsenenalter entwickeln sich auf dem Hintergrund von nichtklinischen Risikofaktoren in der Persönlichkeit und den sozialen Beziehungen, die in die Kindheit zurückreichen.

Ich habe mich auf Risiken für Soziale Phobien beschränkt, weil sie vergleichsweise gut und mit relativ klaren Ergebnissen empirisch untersucht wurden. Andere angstbezogene Störungen werden nur dann thematisiert, wenn es um die Frage geht, ob identifizierte Risikofaktoren für Soziale Phobien spezifisch sind oder ob sie auch auf andere Angststörungen zutreffen. Diese Einschränkung im Inhalt erlaubt es, die vorliegenden Ergebnisse relativ umfassend zu diskutieren und ihre methodenbedingte Begrenztheit deutlich zu machen.

Nicht zuletzt möchte ich Lesern vermitteln, dass die Befunde über Beziehungen zwischen Kindheitsrisiken und Erwachsenenstörung nur auf einen vergleichsweise schwachen Zusammenhang hinweisen. Dabei ist dieser geringe Zusammenhang keinesfalls Ausdruck unzureichender Forschung, sondern ein Hinweis auf die enorme Plastizität der menschlichen Entwicklung und soll eine Warnung vor vereinfachenden Pseudotheorien über die Entwicklung psychischer Störungen sein, wie sie in den Grauzonen der empirischen Psychologie und in den subjektiven Überzeugungen vieler Laien und auch vieler Klinischen Psychologen und Psychotherapeuten anzutreffen sind.

1 Retrodiktion von Risiken und Prädiktion von Störungen

Zwischen einer Störung im Erwachsenenalter und ihren potenziellen Risikofaktoren in der Kindheit liegen viele Jahre. Methodisch gesehen hat das den großen Vorteil, dass die Kausalitätsrichtung der stets korrelativen Zusammenhänge – die Risikofaktoren oder die Störungen werden ja nicht experimentell variiert – klarer als in den üblichen Querschnittsstudien ist: Späteres kann Früheres nicht beeinflusst haben. Also haben die untersuchten Risikofaktoren die Störung beeinflusst und nicht umgekehrt – oder Risikofaktoren und Störung beruhen auf einer gemeinsamen, nicht beobachteten, noch früheren Variable, und die Risikofaktoren haben direkt-kausal nichts mit der Störung zu tun.

Letzteres wird meist übersehen. Weiter unten wird ein solcher Fall am Beispiel des Zusammenhangs zwischen Erziehungsstil der Eltern und Sozialer Phobie des Kindes skizziert. Der zeitliche Abstand zwischen Risikofaktoren und Störung lässt sich auf zwei unterschiedlichen Wegen überbrücken. In Retrodiktionsstudien werden Erwachsene mit der Störung nach potenziellen Risikofaktoren befragt; manchmal werden auch Erinnerungen von Angehörigen hinzugezogen.

Das Hauptproblem dieser Methode sind verzerrte Erinnerungen aufgrund der Störung und subjektiver Theorien über die Störungsursachen. So liegt es z. B. nahe, dass erwachsene Sozialphobiker besonders sensibilisiert auf angsterregende soziale Situationen sind, diese deshalb in der Gegenwart und vor allem in der weniger kognitiv zugänglichen Vergangenheit überschätzen und sich schon wegen dieses Erinnerungseffekts als überdurchschnittlich ängstlich in der Kindheit schildern. Auch Angehörige unterliegen entsprechenden, allerdings wohl nicht so starken Erinnerungsverzerrungen. Diese Erinnerungsverzerrungen betreffen nicht nur symptomverwandte Situationen und Reaktionen, sondern auch alle Kindheitsfaktoren, die nach Laienauffassung mögliche Bedingungen für die Entwicklung einer psychischen Störung sind. Ganz allgemein gilt, dass Erwachsene ihre Kindheit in Form einer möglichst stimmigen Geschichte erzählen, in die nicht nur Erinnerungen an Erlebtes, sondern auch Laientheorien über dessen Ursachen einfließen (Ross, 1989).

Diese Verzerrungen der eigenen Entwicklung und ihrer Bedingungen durch subjektive Theorien können sehr stark sein, nicht nur weil lange Vergangenes ohnehin schlecht rekonstruierbar ist (der kognitive Aspekt), sondern vor allem weil so Bedürfnisse nach Kontinuität der Persönlichkeit und Rechtfertigung eigenen Versagens befriedigt werden können (der motivationale Aspekt). Ein zusätzliches Problem entsteht in den besonders häufigen Fällen einer Retrodiktion anhand von Patientengruppen in Behandlung. Diese sind zwar leicht zugänglich, aber meist nicht repräsentativ für die gesamte Bevölkerungsgruppe mit der Störung, weil Menschen mit leichteren Formen der Störung z.T. gar nicht erst in Behandlung kommen. Dies führt meist zu einer Überschätzung der Risiken, weil sie oft stärker für stärker gestörte Patienten sind.
Inhaltsverzeichnis5
Vorwort7
Literatur9
Das Störungskonzept der Sozialen Phobie oder der Sozialen Angststörung10
1 Definition und Diagnose der Sozialen Phobie11
2 Symptomatik und klinisches Erscheinungsbild16
3 Subtypen und Abgrenzung zur Selbstunsicheren20
Persönlichkeitsstörung20
4 Differentialdiagnostische Abgrenzung23
5 Historische Entwicklung von Störungsmodellen: Von der sozialen Angst zur Sozialen Phobie25
6 Aktuelle Störungsmodelle26
Literatur30
Epidemiologie und Komorbidität der Sozialen Phobie34
1 Einleitung34
2 Prävalenz der Sozialen Phobie35
3 Inzidenz, Erstauftretensalter und Verlauf41
4 Risikofaktoren und Korrelate45
5 Komorbidität Sozialer Phobie mit anderen psychischen Störungen48
6 Psychosoziale Beeinträchtigung55
7 Zusammenfassende Bemerkungen57
Literatur57
Störungsspezifische Diagnostik der Sozialen Phobie66
1 Verfahren zur operationalen Diagnosestellung67
2 Psychometrische Instrumente mit direktem Bezug zur Sozialen Phobie69
3 Psychometrische Instrumente ohne direkten Bezug zur Sozialen Phobie73
4 Verhaltensdiagnostik und Rollenspiele76
5 Therapiebezogene Diagnostik78
6 Ausblick81
Literatur81
Psychophysiologie der Sozialen Phobie - Symptom oder Ursache?87
1 Körperliche Symptome als aufrechterhaltende Faktoren der Sozialen Phobie87
2 Psychophysiologische Aspekte der Sozialen Phobie90
3 Differenzierung von Subgruppen der Sozialen Phobie anhand psychophysiologischer Reaktionen98
4 Ein Ausblick: Ursache oder Symptom?105
Therapeutische Implikationen105
Literatur106
Neurobiologische Aspekte und lerntheoretische Grundlagen der Sozialen Phobie112
1 Einführung112
2 Genetische Aspekte113
3 Substanzinduzierte Symptomprovokation115
4 Transmittersysteme122
5 Autonomes Nervensystem129
6 Neuroendokrinologie130
7 Neuronale Grundlagen der (sozialen) Angst und der Erwerb pathologischer Angst durch Konditionierung130
8 Fazit und Ausblick139
Literatur145
Soziale Phobie: Eine kognitive Perspektive157
1 Das kognitive Modell157
2 Stand der Forschung zum kognitiven Modell164
3 Eine aus der Theorie abgeleitete kognitive Behandlung172
4 Die Effektivität der kognitiven Behandlung176
Literatur177
Soziale Kompetenz und soziale Performanz bei Sozialer Phobie181
1 Soziale Kompetenz und soziale Performanz - Erläuterung der Konzepte und Begriffsbestimmung182
2 Operationalisierung und Diagnostik sozialer Kompetenzen und sozialer Performanz185
3 Zusammenhang zwischen sozialer Kompetenz, sozialer Performanz und Sozialer Phobie189
4 Effektivität von sozialen Kompetenztrainings für die Behandlung Sozialer Phobien193
5 Kompetenz- und performanzorientiertes Störungsmodell der Sozialen Phobie194
6 Konsequenzen für die kognitiv-verhaltenstherapeutische Behandlung Sozialer Phobien198
Literatur199
Die Psychodynamik der Sozialen Phobien. Mit Anmerkungen zur psychoanalytisch orientierten Psychotherapie204
1 Die Narzisstische Dynamik I : Die defizitäre Konzeption des eigenen Selbst205
2 Die Narzisstische Dynamik II : Die kompensatorisch überhöhte Selbstsicht206
3 Die Narzisstische Dynamik III: Der Affekt der Scham208
4 Damit sie nicht ganz vergessen wird: Die Triebdynamik210
5 Die Schicksale des Bindungsverhalten (Attachmenttheorie von Bowlby)211
6 Die Schicksale des Abwehr/ Sicherheitsverhaltens ( Defence/ Safety Model von Gilbert)212
7 Die Dynamik der Gesamtpersönlichkeit215
8 Anmerkungen zur psychoanalytisch orientierten Psychotherapie phobischer Störungen216
Literatur221
Das Vulnerabilitäts-Stress Modell der Sozialen Phobie225
1 Biologische Vulnerabilitätsfaktoren226
2 Psychologische Vulnerabiliätsfaktoren230
3 Störungsspezifische Vulnerabilitätsfaktoren231
4 Das Modell236
Schlussbemerkung239
Literatur240
Risikofaktoren in der Kindheit für Soziale Phobien im Erwachsenenalter246
1 Retrodiktion von Risiken und Prädiktion von Störungen246
2 Retrodiktion der Risiken für Soziale Phobien249
3 Schüchternheit und Verhaltensgehemmtheit im Kindesalter252
4 Schüchternheit/ Verhaltensgehemmtheit als Risikofaktor für Soziale Phobien255
5 Ein Modell der Entwicklung von Schüchternheit, Internalisierungsproblemen und sozialem Rückzug257
Literatur261
Soziale Phobie bei Kindern und Jugendlichen264
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