: Julia Berger
: Ein Jahr in Tokio
: Verlag Herder GmbH
: 9783451346736
: 1
: CHF 8.70
:
: Reiseberichte, Reiseerzählungen
: German
: 192
: kein Kopierschutz
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Endlich wieder Tokio: Fremd und faszinierend hatte die riesige Stadt beim ersten Besuch auf Julia Berger gewirkt, nun wird sie für ein Jahr ihr Zuhause werden. Wie wird sich ihr Eindruck von Land und Leuten verändern? Was geschieht, wenn sie ihre alte Liebe wieder trifft? Und wie kann der Alltag in einer Stadt aussehen, die einem immer neue Rätsel aufgibt?

Die Münchner Architektin Julia Berger wagt den Blick hinter die von Neonreklamen gepflasterten Fassaden der japanischen Hauptstadt.

Januar


4. Januar 2010


Wieder ein roter. Und nicht meiner. Die Koffer gleiten an mir vorbei, und rings um mich greifen Hände nach ihnen, ziehen sie vom Band, machen sich mit ihnen davon. Ich stehe da und schaue ihnen nach, wie verpassten Chancen.

Knapp fünfundzwanzig Kilo habe ich aus meinem alten Leben mit hierher genommen. Die Auswahl der Dinge, die mich um den halben Erdball begleiten sollten, ist einfacher gewesen, als ich mir das zunächst gedacht hatte. Denn selbst als ich mich nur auf das Nötigste beschränkte, war der Koffer im Nu bis an den Rand gefüllt gewesen. Alles andere musste zurück in mein altes Kinderzimmer– und steht nun zwischen den Ikea-Möbeln meiner Studentenzeit, Klamottenkisten, ausrangierten Tennisschlägern und leicht vergilbten Stofftieren.

Richtig verwundert hatte es meine Eltern nicht, als ich ihnen mitgeteilt hatte, dass ich für ein Jahr nach Japan gehen wollte. Immer wieder hatte ich ihnen von dem Land vorgeschwärmt, versucht, es ihnen ebenfalls nahezubringen. Doch ihre Gesichter, als ich ihnen zu Weihnachten statt der traditionellen Bratwürste selbst gemachtes Sushi servierte, hatten mich schließlich davonüberzeugt, dass man Träume nicht teilen konnte. Besonders nicht, wenn sie in Algenpapier gewickelt sind.

„Und deine Wohnung in München?“, hatte meine Mutter gefragt.

„Ist ja eh nur ein WG-Zimmer. Da wollte ich ohnehin schon lange raus.“

„Und du findest da Arbeit?“

Das Architekturbüro, in dem ich arbeitete, hatte mir vor Kurzem gekündigt. Es war das erste Mal gewesen, dass ich länger als ein paar Monate in einem Büro angestellt gewesen war, zuvor hatte ich mich durch verschiedene Praktika gehangelt. Doch obwohl die Chefs und Kollegen dieses Mal nett gewesen waren, hatte mich die Kündigung nicht wirklich schockiert. Das„Pläneschrubben“, also das Zeichnen am Computer, machte mir einfach keinen Spaß. Bäumler, einer der Chefs im Büro„B2 Architekten“ und derjenige, mit dem ich bei meiner Arbeit am meisten zu tun hatte, schien nicht bemerkt zu haben, dass ich nicht besonders an dem Job hing.„Die Aufträge, Julia, die Aufträge fehlen einfach. Tut mir leid. Aber wenn du willst, kann ich mich bei den Kollegen mal umhören, ob sie jemanden brauchen.“ Ich wollte nicht. Das war doch ein Wink des Schicksals. Wie oft hatte ich in den letzten Monaten das Gefühl gehabt, mein Leben an ein Ziel verschenkt zu haben, das nicht das meine war. Jetzt war ich gezwungen, etwas zuändern, und würde es auch tun.

„Mama, da findet sich schon was. Hat doch bis jetzt auch immer geklappt.“

Sie sagte nichts mehr, doch aus ihrem Blick las ich deutlich, was ihr auf der Zunge lag:„Kind, du bist schon 28. Meinst du nicht, du solltest dir langsam die Flausen aus dem Kopf schlagen?“

Dort hinten, das muss er sein! Ich fixiere den roten Koffer, der nun polternd auf das Band fällt. Gleich werde ich aus dem stickigen Saal verschwinden können. Die Einreiseprozedur hatte ich ja schon hinter mir, samt Fingerabdruck-Scan und Identifizierungsfoto. Das Multifunktionsgerät, das den Neuankömmlingen die persönlichen Merkmale entlockt und für die Ewigkeit speichert, hatte mich ein wenig an ein Hündchen erinnert. Daran waren vor allem die Scanner-Arme schuld, die sich dem Reisenden wie zwei Pfoten entgegenstreckten. Statt eines Gesichts wendet einem der Roboter einen Bildschirm zu, und ein bunter Schriftzug heißt den„Gaikokujin“, also Ausländer, in Japan willkommen. Hat sich der Einreisende dazu bequemt, seine Finger auf die Pfoten zu legen, knipst einen das Gerät mit seiner in die Stirn integrierten Kamera. Schöne neue Welt? Nun ja, ich hatte es jedenfalls hinter mir, ebenso den Temperaturscanner, der nichts an meinen Graden auszusetzen gehabt hatte, auch wenn es mir seit meiner Ankunft gleichzeitig heiß und kalt ist. Denn wenn ich nun endlich mein Gepäck habe, muss ich nur noch durch den Zoll– dann bin ich draußen, in dies