Zu Hause in Almanya Aysegül Acevit erzählt vom türkischen Leben in Deutschland
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Aysegül Acevit
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Zu Hause in Almanya Aysegül Acevit erzählt vom türkischen Leben in Deutschland
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Campus Verlag
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9783593404783
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1
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CHF 17.20
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Geschichte, Politik
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German
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198
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Wasserzeichen/DRM
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PC/MAC/eReader/Tablet
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PDF
ab 12 Jahre Was deutscher Hip-Hop mit türkischer Musik zu tun hat? Eine ganze Menge, weiß Aysegül Acevit. Mehr als 40 Jahre ist es her, dass die ersten türkischen Gastarbeiter nach Deutschland kamen - und viel hat sich seither geändert, in beiden Ländern, in beiden Kulturen und im Zusammenleben miteinander.
Aysegül Acevit wurde an der türkischen Schwarzmeerküste geboren und wuchs im Ruhrgebiet auf. Sie ist Diplom-Sozialwissenschaftleri und volontierte Radio- und Fernsehjournalistin. Sie hat schon früh erste Geschichten und Gedichte in deutscher Sprache verfasst. Heute lebt sie in Köln, wo sie als Journalistin und Autorin tätig ist.
Die Mutter aus dem Dorf Ich saß im Bus und fuhr gemütlich durch die Straßen einer Kleinstadt, von Haltestelle zu Haltestelle. Es war eine dieser Städte, die heutzutage immer leerer werden, weil es immer weniger Kinder in Deutschland gibt und weil die Erwachsenen wegziehen, um anderswo eine bessere Arbeit und ein schöneres Leben zu finden. Während ich aus dem Fenster schaute auf die schnuckeligen, kleinen Häuser, in denen jeder für sich alleine lebt und versucht glücklich zu werden, setzte sich eine junge Frau neben mich. Zuerst sah ich sie nur flüchtig. Es war eine Türkin. Sie muss Ende zwanzig gewesen sein, trug ein Kopftuch und einen langen Mantel, war sehr höflich und lächelte freundlich, als sie sich auf dem freien Sitz breitmachte. Sie hatte einen Kinderwagen dabei, in dem ein kleines Kind unbeirrt von allen Geräuschen schlummerte und zu dem sie alle paar Minuten hinüberschaute. Nach ihrer Kleidung zu urteilen vermutete ich, dass sie nicht in Deutschland aufgewachsen war. Sie sah aus wie die jungen Frauen, die in den Dörfern der Türkei leben: der Mantel aus einfachem Stoff, das Tuch knallbunt und unter dem Kinn gebunden, seitlich befestigt mit einer Nadel. Die Schuhe schlicht und einfach, die Hände rau, das Gesicht etwas trocken. Keine Schminke, kein Schmuck, und etwas füllig war sie, das konnte man erkennen. Immer, wenn unsere Blicke sich trafen, sah ich, dass sie lächelte, und man merkte, dass sie sich gerne unterhalten wollte. So wie es oft auch bei älteren deutschen Frauen ist, die einsam sind und niemand zum Reden haben. Aber bei dieser Frau war es nicht Einsamkeit, es war übersprudelnde Energie, die sie trieb. Ich wollte mich gerne auf ein Gespräch mit ihr einlassen, denn sie schien nett zu sein, und man erlebt manchmal Überraschungen, wenn man sich mit fremden Menschen unterhält. Schließlich lächelte sie mich an und ich lächelte zurück und dann sagte sie: 'Wohin fährst Du?' 'Ich fahre nach Süd', sagte ich und meinte den Stadtteil. 'Oh, da fahre ich auch hin', strahlte sie, und so kamen wir ins Gespräch. Auch ihre Sprache war einfach, sie hatte einen dörflichen Akzent und sprach kein Hochtürkisch. Zuerst redeten wir über das Wetter und dann über Deutschland. Sie erzählte mir, dass sie erst seit einigen Jahren hier lebe. Ihr Mann war hier groß geworden, und als es für ihn Zeit wurde zu heiraten und er keine passende Frau in der Umgebung fand, da ging seine Mutter in den Sommerferien in ihr Heimatdorf und besuchte die Nachbarsfrauen, die ledige Töchter hatten. Dort habe sie sie zum ersten Mal gesehen, und weil sie als Tochter einer anständigen Familie einen guten Ruf im Dorf hatte, weil sie als fleißig und gutmütig galt, hätte die Frau aus Deutschland gleich ein Auge auf sie geworfen. Einige Monate später sei der Sohn vorbeigekommen und die beiden wurden einander vorgestellt. Sie gefielen sich und beschlossen zu heiraten. Vielleicht hatte sie den Mann nur deshalb gut gefunden, weil er für ihre Verhältnisse wohlhabend war und ihr mehr bieten konnte als die anderen jungen Männer in ihrem Dorf. Vielleicht auch, weil er für sie die einzige Möglichkeit war, jemals in ihrem Leben ins Ausland zu gehen, aber das sagte sie nicht. So sei sie dann eben nach Deutschland gekommen. Damals habe sie sich wahnsinnig gefreut, in so ein reiches und berühmtes Land zu gehen. Es sei das größte Abenteuer ihres Lebens gewesen, denn der am weitesten entfernte Ort, den sie davor je besucht habe, sei die nächste Großstadt gewesen. 'Aber jetzt verstehe ich nicht mehr, warum ich damals so begeistert war. Hier gibt es doch gar nichts', sagte sie grinsend. 'Hier sind ja auch nur Menschen und keine Superhelden. Und das Wetter ist schrecklich. Ständig ist es grau und kühl.' Sie wohnte jetzt im gleichen Haus wie ihre Schwiegermutter und hatte drei Kinder. Das im Kinderwagen war das jüngste. Hausarbeit, die Kinder hüten, den Schwiegereltern helfen und die Nachbarinnen besuchen oder befreundete Familien des Mannes - daraus bestand ihr ganzes Leben. Sehr viel mehr hätte sie in ihrem Dorf auch nicht gemacht, außer, dass sie vielleicht noch auf dem Feld gearbeitet hätte. Wenn sie sich langweilte, klingelte sie nun spontan bei einer türkischen Nachbarin, um zu tratschen - egal ob es zehn Uhr morgens oder zehn Uhr abends war. Oder die Nachbarinnen kamen mit einem Teller Selbstgebackenem zu ihr, und sie saßen stundenlang zusammen. Dein Haus ist auch mein Haus, deine Freunde sind meine Freunde, ist eine weit verbreitete türkische Devise. Zu deutschen Nachbarinnen hatte sie dagegen kaum Kontakt. Fraglich, ob sie so einen unkonventionellen Umgang mit ihnen überhaupt hätte pflegen können. Sie konnte auch nur wenig Deutsch sprechen. In ihrer Heimat hatte sie nur die Grundschule besucht, und eine Fremdsprache zu lernen war für sie ungefähr so wie im Cockpit eines Jumbojets zu sitzen, 1 000 Knöpfe vor sich zu haben und die Maschine starten zu müssen. So hatte mir das mal eine ältere Frau erklärt. Aber die Sprache nicht zu können, war für sie das kleinste Problem. Selbst wenn sie sie gekonnt hätte - viel hätte sich nicht in ihrem Leben geändert. Vielleicht hätte sie hin und wieder ein paar Worte mit einer deutschen Nachbarin gewechselt. Aber nur, wenn diese das auch gewollt hätte. Oder sie hätte ein paar Worte mit der Kassiererin im Supermarkt gewechselt. 5 Euro? Bitte schön. Danke schön. Das konnte sie auch so schon. Oder sie hätte mit dem Arzt reden können, wenn sie krank war, aber zu dem ging sie ohnehin nie alleine, weil sie sich schämte. Behördenbriefe las sie nicht, weil das für sie Männersache war, und ihren Kindern bei den Schulaufgaben helfen konnte sie ohnehin nicht, dazu reichte ihre Schulbildung nicht aus. Nein, sie hatte größere Probleme, als die deutsche Sprache nicht zu können. Sie hatte zum Beispiel kein Hobby! Das einzige, was ihr Spaß machte, war Kochen, deshalb war sie auch so mollig. Die meisten anderen Dinge, die man in seiner Freizeit tun kann, wie Radfahren zum Beispiel, kamen für sie nicht infrage, weil sich das nicht schickt für eine verheiratete Frau, so dachte sie. Und weil dann alle auf ihren Po starren könnten, wofür sie sich geschämt hätte. In einen Sportverein wäre sie nie gegangen, denn sie hätte Angst gehabt, dass die Deutschen dort sie belächeln würden. Womit sie vielleicht nicht Unrecht hatte. Einen Sportverein für türkische Frauen gab es nicht, und auch sonst gab es keine türkischen Vereine in der Umgebung, außer einem Moscheeverein, einer Teestube für Männer und einem Fußballverein für Jungs. Was hätte sie also tun können? Schwimmen? Niemals! Sich halb nackt zu zeigen ist doch Sünde, dachte sie. Tanzen? Ging sie einmal im Jahr, wenn irgendwo türkische Hochzeit war, und selbst dann saß sie die meiste Zeit nur am Tisch und schaute zu. Diskos oder Lokale waren für sie tabu. Kino? Warum? Filme laufen doch auch im Fernsehen. Malen, basteln, spielen vielleicht? Das alles war für sie Kinderkram, aber nichts für Erwachsene. Sie las auch nicht, außer hin und wieder mal eine Zeitung und Kochrezepte. Was in der Welt passierte, interessierte sie nicht, weil sie es nicht verstand; was in der Umgebung passierte, auch nicht. Was blieb ihr also anderes, als sich um Haus und Hof und Familie zu kümmern? Sie lebte gemütlich in ihrem Viertel wie in einem kleinen Dorf, oder vielleicht so wie deutsche Touristen in Antalya, die wie eingeschlossen in ihrer kleinen Welt den ganzen Urlaub über nur am Strand liegen, ohne ein einziges Mal das Leben im Land kennen zu lernen. Viele Menschen haben sehr enge Vorstellungen davon, wie ihr Leben aussehen soll, aber diese Frau war darin meisterhaft. Wahrscheinlich würde ihr Leben die nächsten 50 Jahre genau so weitergehen, denn zurück in die Türkei wollte sie nicht. Das hätte für sie bedeutet, zurück in ihr Dorf gehen zu müssen. Sie genoss den guten Lebensstandard, den sich ihr Mann hier erarbeitet hatte, und das war ihr größtes Glück. Dieses Glück sollten auch ihre Kinder haben - mehr brauchten sie nicht, dachte sie, denn mehr konnte sie sich nicht vorstellen. Wie sie die Kinder auf die Zukunft in einer globalen Welt vorbereiten sollte, wie sie ihnen Geschichten vom Leben im großen,
Inhalt
8
Vorwort
10
Teil 1 – Kismet. Das Glück kommt auf eigenen Wegen
12
Die Kinder von Zeliha
13
Die Königin der Flimmerkiste
19
Eine Abla ist eine Abla
28
Teil 2 – Alles ändert sich. Deutschlandtürken von heute
34
Eine Reise nach Istanbul
36
Kein Handkuss für die Tante
41
Die Mutter aus dem Dorf
45
Der Clown in der Moschee
51
Onkel Mehmet, der Nikolaus
57
Teil 3 – Endlich seid ihr da. Wie die Türken nach Deutschland kamen
64
Nur die Besten für den Westen
66
Der Bunker unter Gleis 11
71
Die Kolonie der Arbeiter
74
Der Schatz im Koffer
80
Teil 4 – Grauer Alltag in Almanya. Schein und Sein
88
Keine Wohnung für Türken
89
»Nur schlechte Nachrichtensind gute Nachrichten«
95
In welchem Land leben wir?
102
Alles Loser?
111
Teil 5 – Sen ve ben, du und ich. Wie wir alle verschmelzen
118
Hiphop for Germany
120
Abschiedsküsse und Knofikult
124
Alles klar, Kollege
129
Der Zaubergarten
136
Teil 6Von Anatolien zur europäischenGroßmachtDie türkische Geschichte
146
Der Retter in der Not –Atatürk und die moderne Türkei
148
Hysterie und Fantasie – Europa und die Türken
156
Mehmet von Königstreu
164
Der kleine Sultan und sein großes Reich
170
Wenn der Reiter sein Zelt aufschlägt
175
Anhang
182
Glossar
182
Türkische Persönlichkeiten der Weltgeschichte
187
Türkische Persönlichkeiten in Deutschland
189
Daten zur Arbeitsmigration
191
Bildnachweise
193
Landkarten
193
Auswahl verwendeter Literatur
196