: Walter Reese-Schäfer
: Jürgen Habermas
: Campus Verlag
: 9783593400204
: Campus Einführungen
: 1
: CHF 12.60
:
: Allgemeines, Lexika
: German
: 196
: Wasserzeichen/DRM
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB/PDF
Jürgen Habermas ist der international bedeutendste lebende Philosoph Deutschlands, der mit seiner Diskurstheorie einen der wichtigsten Beiträge zur Gegenwartsphilosophie geleistet hat. Er verkörpert darüber hinaus die Figur des kritischen Intellektuellen, der engagiert in gesellschaftliche Debatten eingreift, wenn er sie nicht - wie etwa den 'Historikerstreit' der achtziger Jahre - selbst auslöst. In seinen Analysen zum philosophischen Diskurs der Moderne und in seiner kritischen Gesellschaftstheorie zeigt er, worin der normative Gehalt der Moderne besteht.

Walter Reese-Schäfer, Universität Halle-Wittenberg, ist Verfasser der bei Campus erschienenen Einführungen Richard Rorty (1991) und Kommunitarismus (2001). Außerdem sind von ihm erschienen Grenzgötter der Moral. Der neuere europäisch-amerikanische Diskurs zur politischen Ethik (1997) sowie Politische Theorie heute. Neue Tendenzen und Entwicklungen ( 2000).

|9|Einleitung


»Ich bin kein Weltanschauungsproduzent,

ich möchte tatsächlich ein paar kleine

Wahrheiten produzieren, nicht die eine

große Wahrheit.« (NU 207)

Habermas ist im Laufe der Jahre in die Rolle des repräsentativen Philosophen der Bundesrepublik Deutschland hineingewachsen. Er ist so etwas wie einpraeceptor germaniae, ein Lehrer Deutschlands, geworden, weil er die Reflexion über die Vergangenheitsbewältigung mit seinen Initiativen und Interventionen wesentlich bestimmt hat. Andere haben ihm deshalb den Ehrentitel eines »Philosophen der re-education« verliehen, der eine auf den universalistischen Prämissen der Aufklärung basierende Erziehungsfunktion in Deutschland übernommen hat und schon früh für die Westbindung eingetreten ist.1 Für sich selbst hätte er gern in Anspruch genommen, dass Philosophen nicht die Lehrer der Nation seien.2 Das ist eine chancenlose Bescheidenheit in den frei fließenden öffentlichen Diskussionen einer institutionenarmen Zivilgesellschaft, die als einzige Orientierungs- und Kontrollmöglichkeit im Meinungsmarkt der Beiträge über die Prominenz ihrer Urheber verfügt.|10|Der Meinungskonsument greift gern wieder auf die vertraute Markenqualität zurück.

Hinter diesem politisch eingreifenden Habermas steht ein Soziologie und Philosoph, dessen Bücher in den Universitätsbuchhandlungen von Paris bis Boston, von London bis Rio de Janeiro nicht irgendwo in den Regalen stehen, sondern auf den Präsentationstischen ausliegen und in den Seminaren behandelt werden. Vor allem sind es der frühe brillante Entwurf über denStrukturwandel der Öffentlichkeit (seitdem redet man an englischsprachigen Universitäten von derpublic sphere) und dieTheorie des kommunikativen Handelns, die die Phantasie von Nachwuchswissenschaftlern und Studentengenerationen seit dreißig Jahren bewegt haben. Seine Grundbegriffe wie Öffentlichkeit, Diskurs, kommunikatives Handeln, Lebenswelt, deliberative Politik und Zivilgesellschaft haben allesamt eine umfangreiche Diskussion erfahren. Seine Diskursethik ist in einer angeblich postmoralischen Zeit ein neuer Anstoß zu Moralbegründungsversuchen gewesen, seine Zeitdiagnose von der Kolonialisierung der Lebenswelt ist zum argumentativen Rüstzeug sozialer Bewegungen geworden. Und vor allem: Er hat nicht nur wissenschaftlich über die Öffentlichkeit geschrieben, sondern gleich selbst deren Rolle übernommen und zu den verschiedensten politischen Fragen entschieden Stellung bezogen.

Bis Ende der siebziger Jahre hat Habermas als Philosoph seine »Ausbildung vor dem Publikum« absolviert. Noch 1974 stand er »erst am Anfang der eigentlichen Theorie«.3 Erst mit der zweibändigenTheorie des kommunikativen Handelns|11|(1981) liegt eine ausgearbeitete Gestalt seines Werkes vor. Einst so zentrale Arbeiten, die vorübergehend sogar als »Hauptwerk« galten, wieErkenntnis und Interesse (1968), verblassen vor dem heutigen Stand seiner Theorie zu Frühschriften. Die in den siebziger Jahren in hundertfachen Kopien zirkulierenden Aufsätze zur »Universalpragmatik« und zur »kommunikativen Kompetenz« sind heute als das erkennbar, was sie von Anfang an waren: als Vorstudien. Diese Arbeiten wurden denn auch später (1984) alsVorstudien und Ergänzungen zur Theorie deskommunikativen Handelns abgedruckt.

Meine Einschätzung und Behandlung seiner Frühschriften entspricht Habermas’ Selbstdeutung. FürErkenntnis und Interesse hat er nie mehr als den Stellenwert eines Prolegomenons beansprucht. Ursprünglich sollten zwei Bände zur Entwicklung der analytischen Philosophie folgen. Diesen Plan gab er auf, denn erstens setzte damals eine Kritik und Selbstkritik des szientistischen Denkens ein, die Habermas’ Intentionen weitgehend entsprach; zweitens ergab die unerwartete intensive und breite Diskussion vonErkenntnis und Interesse, dass er seinen Grundansatz revidieren musste. Seit Anfang der achtziger Jahre hat er die Wendung zur Sprachphilosophie, denlinguisticturn nachvollzogen, der das philosophische Denken der letzten Jahrzehnte revolutioniert hat. Welt- und politikferne Sprachimmanenz, wie sie aus den engen Diskussionszirkeln der Universität Cambridge sich entwickelt hat, ist Habermas allerdings fremd: Er ist politischer Philosoph geblieben.

|12|Philosophisch geschulte Leser haben diesprachphilosophischeWende sofort erkannt, z. B. Herbert Schnädelbach in seiner Arbeit »Transformation der kritischen Theorie«.4 Für die meisten fachlichen wie außerfachlichen, studentischen wie professoralen Leser behielten die beiden in der Erstausgabe dunkelblauen und ziegelsteingroßen Bände derTheorie des kommunikativenHandelns jedoch die Aura eines »Buchs mit si

Inhalt6
Siglen8
Einleitung10
1 Diskurstheorie der Wahrheit und ideale Sprechsituation23
2 Strukturwandel der Öffentlichkeit35
3 Die Theorie des kommunikativen Handelns49
3.1 Der Aufbau des Werkes49
3.2 Kommunikatives Handeln51
3.3 Lebenswelt und System61
3.4 Die Gesellschaftsdiagnose: Kolonialisierung der Lebenswelt65
3.5 Das Theorieprogramm im Überblick68
4 Die Diskursethik71
4.1 Eine fast unbekannte Quelle: George Herbert Mead71
4.2 Das Begründungsprogramm der Diskursethik und sein Absturz76
5 Zivilgesellschaft und deliberative Demokratie92
5.1 Faktizität und Geltung92
5.2 Deliberative Demokratie103
6 Habermas und die praktische Politik119
6.1 Gewalt undWiderstandsrecht in der Demokratie119
6.2 Vom Historikerstreit zur Berliner Republik124
6.3 Nationalstaat und Globalisierungsprozess128
6.4 Bestialität und Humantität: Der Kosovo-Krieg134
7 Das Projekt der Moderne138
7.1 Kritik an der Postmoderne138
7.2 Habermas und der Ausgang der klassischen Frankfurter Schule146
8 Nach dem Ende der Metaphysik: Wozu noch Philosophie?150
8.1 Die Krise der Metaphysik150
8.2 Eine habermasianische Theologie?158
8.3 Welche Funktion bleibt für die Philosophie?164
9 Bilanz und Ausblick170
Literatur178
Glossar191
Biographische Daten195