|15|1 Kritik des ungebundenen Selbst: Michael Sandel
Michael Sandel hat für das kommunitarische Denken eine wichtige bahnbrechende Funktion gehabt. Seine beiden Hauptsorgen sind: Die Bürger verlieren die Kontrolle über die wichtigsten Faktoren, die ihr Leben bestimmen. Das moralische Gewebe der Gemeinschaften, die die Bürger von der Familie über die Nachbarschaft bis hin zur politischen Selbstorganisation umgeben haben, ist in Auflösung begriffen. Seine Diagnose lautet also: Demokratieverlust und Gemeinschaftsverlust. Daraus resultieren die Unzufriedenheiten und Ängste der gegenwärtigen Zeitsituation. Dem möchte er eine Philosophie des öffentlichen Lebens entgegensetzen (vgl. Sandel 1996).
Entstanden ist das neuere kommunitarische Denken in den USA nicht aus der Praxis, sondern aus einer anfangs sehr akademischen Kritik am individualistischen Liberalismus. Der Begriff »kommunitarisch« bekam in Michael Sandels BuchLiberalism and the Limits of Justice (1982) erstmals eine tragende Rolle. Mit diesem Buch hat die systematische kommunitarische Kritik an der liberalen Vorstellung begonnen, dass Gerechtigkeit Fairness gegenüber den Anspruchsrechten der|16|Individuen sei. Andere Kritiken, wie die von Charles Taylor, sind zwar älteren Datums, haben den Kommunitarismusbegriff aber nicht in dieser schulbildenden Weise verwendet.
Sandel argumentiert gegen John Rawls’ SchriftEine Theorieder Gerechtigkeit (1979), die weltweit sehr schnell als ein Hauptwerk der politischen Philosophie unseres Jahrhunderts anerkannt worden war. Rawls hatte mit nachhaltiger Wirkung einen Kerngedanken Immanuel Kants in die angelsächsische Diskussion eingeführt: Eine politische Ethik dürfe nicht ein bestimmtes Konzept des Glücks und des guten Lebens zu ihrem Grundprinzip nehmen, weil solche Konzepte völlig unterschiedlich, zufällig zustande gekommen und nicht intersubjektiv verbindlich begründbar seien. Selbst wenn alle für sich den Wunsch hätten, glücklich zu sein (was in der wirklichen Welt nicht unbedingt zutrifft), wären die Vorstellungen vom Glück doch zu unterschiedlich. Vielmehr komme es darauf an, den Bürgern zu ermöglichen, ihre eigenen Zielvorstellungen zu verfolgen, solange sich dies mit der Freiheit eines jeden verträgt. In Kants SchriftÜber den Gemeinspruch: Das mag in der Theorierichtig sein, taugt aber nicht für die Praxis [1793] heißt es:
»Niemand kann mich zwingen auf seine Art (wie er sich das Wohlsein anderer Menschen denkt) glücklich zu sein, sondern ein jeder darf seine Glückseligkeit auf dem Wege suchen, welcher ihm selbst gut dünkt, wenn er nur der Freiheit Anderer, einem ähnlichen Zwecke nachzustreben, die mit der Freiheit von jedermann nach einem möglichen allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann (d.i. diesem Rechte des Andern) nicht Abbruch tut.« (Kant 1968, 290)
Was jeder Einzelne sich unter seinem Glück vorstellen soll, darf nicht dekretiert werden. Zu regeln bleibt allein die möglichst gerechte Koordination der unterschiedlichen Lebenskonzepte.
Das Gerechte soll bei Rawls deshalb einen absoluten Vorrang vor dem guten Leben haben. Kein individuelles Recht darf dem Allgemeinwohl geopfert werden. Dies steht im Gegensatz|17|zu der Maxime des klassischen Utilitarismus: Ziel sei das größte Glück der größten Zahl. Dagegen sagt Rawls: »Die Gerechtigkeit ist die erste Tugend sozialer Institutionen, so wie die Wahrheit in Gedankensystemen.« (Rawls 1979, 19) Daraus folgt, dass eine Gesellschaft, die das Glück einiger zugunsten des Wohlergehens der Allgemeinheit opfern wollte, ungerecht wäre. Gerechtigkeit ist nicht einfach ein Ziel unter anderen – etwa neben Wohlstand, Glückseligkeit usw. »Sie stellt vielmehr den Rahmen zur Verfügung, der das Spiel der konkurrierenden Werte und Ziele reguliert.« (Sandel 1984b, 21) Bei Kant basiert das moralische Gesetz auf dem Willen des autonomen Subjekts.
Um die kommunitarische Krit