|9|Einleitung
Von Max Weber stammt die Bemerkung, vom Denken des 20. Jahrhunderts verstehe nichts, wer Nietzsche und Marx ignoriere. Eric Voegelin zählt Marx, neben Nietzsche, Weber und Freud, zu den bahnbrechenden Geistern der neueren Moderne. Und so unterschiedliche Köpfe wie Eric Hobsbawm und Ernst Nolte sind sich in dem Urteil einig, dass dem 20. Jahrhundert das Prädikat »Zeitalter des Marxismus« gebühre. Hobsbawm lässt das abgelaufene Jahrhundert, das er das »kurze« nennt, mit dem Ersten Weltkrieg und der Oktoberrevolution beginnen und mit dem Kollaps der Sowjetunion enden.
Auch wenn es seit jenem Kollaps üblich geworden ist, den Marxismus als endgültig erledigt zu betrachten und damit zur kapitalistischen Tagesordnung überzugehen, machte man sich eines schweren intellektuellen Versäumnisses schuldig, wenn man die mit dem Marxismus verbundenen Fragen, die immerhin dafür gesorgt haben, dass die bis dahin weltweit dominante Wirtschaftsordnung des Kapitalismus zu eingreifenden Korrekturen der ihr eigentümlichen Logik des Wirtschaftens gezwungen wurde, einfach ad acta legen würde. Fragen werden nicht dadurch aus der Welt geschafft, dass unzureichende oder falsche Antworten auf sie gegeben wurden. Als Frage bleibt der Marxismus auch im 21. Jahrhundert präsent – freilich wird sie|10|auf einem neuen Niveau und in einer neuen, unverbrauchten Sprache formuliert werden müssen. Aber das steht auf einem anderen Blatt und ist nicht Gegenstand dieser Einführung.
Marxismus ist ein pauschaler und Allerweltsbegriff, und jeder versteht darunter etwas anderes. Wenn im Folgenden vondem Marxismus die Rede ist, so bediene ich mich damit einer ebenso vorläufigen wie konventionellen Sprechweise, die zwar eine Vielzahl von divergenten Phänomenen umfasst, aber doch auf eine einheitliche Epochensignatur zielt. Allen Marxismen zum Trotz, auch wenn sie sich untereinander zum Teil heftig befehdet haben, gibt es doch so etwas wieden Marxismus als epochales Ereignis. Vor allem im letzten Kapitel dieses Buches soll versucht werden, das epochal Einheitliche auf den Begriff zu bringen.
Die Heraufkunft des Marxismus sowohl als theorie- und ideengeschichtliche Formation wie als real- und gesellschaftsgeschichtlich wirksames Faktum lässt sich noch am ehesten begreifen, wenn man sich selber auf den Boden basaler marxistischer Annahmen, das heißt auf den Boden dessen stellt, was seit Marxhistorischer Materialismus heißt. Bekanntlich geht der historische Materialismus davon aus, und das gilt auch für seine eigene Entstehung, dass Ideen, Gedanken und Theorien nicht allein im Kontext anderer kursierender Ideen, Gedanken und Theorien das Licht der Welt erblicken – sozusagen als Eingebungen des Geistes, so wie man lange Zeit die erste Philosophie der Griechen als »griechisches Wunder« bezeichnet hat –, sondern auch, und primär, im Kontakt und Austausch mit den Tatsachen des sozialen Lebens. Nach Marx drängt die Idee zur Wirklichkeit, nicht, wie in der Hegelschen Philosophie, die Wirklichkeit zur Idee.
Die Wirklichkeit, welche Marx und der aufkeimende Marxismus vorfanden, bestand gewiss auch in den Ideen der Französischen Revolution, im lebendigen Erbe des Deutschen Idealismus (Kant, Fichte, Schelling, Hegel), in den materialistisch|11|und religionskritisch eingefärbten Debatten der Linkshegelianer (Feuerbach, Ruge, Hess, Bauer), in den anarchoiden Ausbrüchen eines Max Stirner und, nicht zu vergessen, in den subversiven Hervorbringungen der zeitgenössischen Literatur, in denen sich, wie bei Büchner, Heine, Balzac, Baudelaire, George Sand und Dickens, ein teils scharfer gesellschaftskritischer Ton bemerkbar machte. Das alles zählte für den entstehenden Marxismus nicht wenig.
Aber etwas anderes zählte weit mehr, und dies erkannt und zum Ausgangspunkt seines Denkens gemacht zu haben, gehört zu den unbestreitbar großen Leistungen von Marx. Im historischen Rückblick wird deutlich, dass nur ein paar Jahrzehnte vor Marxens Geburt (1818) ein ganz neues Zeitalter begonnen hatte, wie es die Welt bis dahin nicht kannte. Nehmen wir als rundes Datum das Jahr 1750, mit dem der Sozialhistoriker Eric Hobsbawm seine moderneBritische Wirtschaftsgeschichte anheben lässt,1 so muss man feststellen: Damals begann dieEpoche der totalen Ö