Worum es geht:
Von Mutbürgern und Wutbürgern
Aristoteles und Abraham Lincoln– Bürgerengagement und Politik– Repräsentative Demokratie– Gemeinsinn oder Egoismus– Orientierung in unübersichtlicher Zeit– Vertrauen und Kontrolle– Recht auf Widerstand– Unregierbarkeit
Nonnenmacher: Bei Aristoteles steht, der gute Bürger müsse gut regieren können und sich gut regieren lassen. Lieber Herr Vogel, welche Tugenden und Fähigkeiten es braucht, um gut zu regieren, darüber werden wir noch reden. Aber was heißt, ein guter Bürger müsse sich auch gut regieren lassen? Es kann doch nicht bedeuten, dass er nur hinnimmt, was die Regierenden entscheiden. Was also zeichnet einen vorbildlichen Bürger aus?
Vogel: Was Aristoteles vor mehr als 2300 Jahren gesagt hat, gilt im Kern auch heute. Allerdings: In Athen bildeten in der klassischen Zeit wenige 10.000 Männer das Volk, die Volksversammlung, und wenige Hundert den Rat, der Tagesordnung und Beschlussvorschläge für die Volksversammlung festlegte. Heute sind achtzig Millionen in Deutschland das Volk, fünfhundert Millionen in Europa und sieben Milliarden auf der ganzen Welt. Dasändert freilich nicht die Grundaussage: Wir wollen die Regierung des Volkes, durch das Volk und für das Volk: of the people, by the people, for the people.
N: So Abraham Lincoln in seiner berühmten Definition der demokratischen Staatsform: schön gesagt, praktisch aber nicht zu verwirklichen. Sie haben mit Recht darauf verwiesen: In Athen gab es Aktivbürger, die in einer ArtÄmterrotation manchmal tatsächlich regierten und manchmal regiert wurden. Heute kommt der Normalbürger nicht mehr zum Regieren.
V: Das erste Postulat des Aristoteles richtet sich an jeden mündigen Bürger. Er soll sich kundig machen, er soll sich engagieren, er soll Macht auf Zeit vergeben, er soll kritisieren. Und er braucht natürlich Voraussetzungen, um seinen Mut tatsächlich Realität werden zu lassen. Natürlich ist der mutige Bürger auf mutige Politiker angewiesen, also Männer und Frauen, die sich bemühen, zu wissen, was der Bürger will, die dem Bürger aber auch Ziele nennen, für die der langfristige Einsatz lohnt. Weil wir in unübersichtlichen Zeiten leben, sind die Anforderungen an den Bürger und an die Politiker ohne Frage in den letzten Jahrzehnten deutlich gewachsen.
N: Nun gab es, etwas zugespitzt gesagt, in der Antike eine Art von Amateurdemokratie: Jeder konnte regieren, jeder musste sich in zeitlicher Abfolge auch regieren lassen. Aber wir sprechen da von Bürgern, die im Prinzip vonökonomischen Sachzwängen entlastet waren, also von der Notwendigkeit, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Heute leben wir in einer arbeitsteiligen Gesellschaft, es kann sich nicht jeder mit allenöffentlichen Angelegenheiten und den Fragen, die sich daraus ergeben, beschäftigen. Viele wollen es ja auch nicht, und wenn ich Hannah Arendt zitieren darf: Es gibt auch ein Recht darauf, von der Politik in Ruhe gelassen zu werden. Kann also dieser vorhin erwähnte Maßstab des Aristoteles heute noch gelten? Ist er in einer arbeitsteiligen Gesellschaft, in der es Berufspolitiker gibt und eine Masse von Regierten, noch brauchbar? Sie haben ja gesagt: Ich bezweifle es.
V: Natürlich: Die Freiheit der Bürger von Athen war teuer erkauft. Sklaven, die man nicht wie seinesgleichen behandelte, die keine Bürger waren, die als Sache galten, hatten die tägliche Arbeit zu verrichten. Heute muss ein Bürger zunächst einmal dafür sorgen, dass er für sich und die Seinen monatlich genug Geld verdient. Er muss dafür sorgen, dass er sich in einer schwierigen, unübersichtlichen Welt zurechtfindet. Ihm wird viel weniger als früher eine feste Ordnung vorgegeben, in die er sich eingliedern kann. Jeder soll nach seiner Fasson selig werden, sagt Friedrich der Große. Das heißt aber auch: Jeder muss sich die Fasson, in der er selig werden will, selbst suchen. Und das ist nicht ganz einfach. Deswegen verurteile ich auch nicht, dass sich nicht alle Bürger im gleichen Maße politisch engagieren. Ich gebe Hannah Arendt recht, obwohl es mir schwerfällt, ihren Satz zu akzeptieren. Diejenigen, die sich engagieren, müssen bedenken, dass sie auch auf die anderen Rücksicht zu nehmen haben, denn sie leben ja mit ihnen zusammen und brauchen sie. Die Politiker müssen Rücksicht darauf nehmen, dass es nicht nur die gibt, die sich zu vielem ihre eigene Meinung bilden, und einige, die sich täglich zu jeder Frage lautstarkäußern, sondern auch die, die ihr Vertrauen darauf setzen, dass die Verantwortlichen richtig handeln, auch wenn sie selbst sich nicht täglich zu Wort melden.
N: Das Engagement der Bürger geht ja heute, wenn ich mich so ausdrücken darf, durch ein Nadelöhr. Denn wer politisch mitbestimmen, also im klassischen Sinne mitregieren will, der muss sich in einer Partei engagieren. Natürlich gibt es auch das Engagement in Bürgerinitiativen, in Verbänden und so weiter. Aber die Parteien bleiben doch entscheidend. Wenn ich mirüberlege, dass in Deutschland die Volksparteien CDU/CSU und SPD je etwa 500.000