: Terry Eagleton
: Warum Marx recht hat
: Ullstein
: 9783843702201
: 1
: CHF 9.90
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: Politikwissenschaft
: German
: 288
: Wasserzeichen
: PC/MAC/eReader/Tablet
: ePUB
Mitten in der schwersten Krise des Kapitalismus bricht der katholische Marxist Terry Eagleton eine Lanze für Karl Marx. Streitbar, originell und mit britischem Humor widerlegt er zentrale Argumente gegen den Marxismus, wie z.B. 'Wir leben doch längst in einer klassenlosen Gesellschaft', 'Der Marxismus erfordert einen despotischen Staat' oder 'Der Marxismus ignoriert die selbstsüchtige Natur des Menschen'. Eagleton macht klar: Marx' materialistische Philosophie hat ihren Ursprung im Streben nach Freiheit, Bürgerrechten und Wohlstand. Sie zielt auf eine demokratische Ordnung und nicht auf deren Abschaffung

Terry Eagleton ist Professor für Englische Literatur an der University of Manchester und Fellow der British Academy. Der international gefeierte Literaturwissenschaftler und Kulturtheoretiker hat über 50 Bücher verfasst. Auf Deutsch liegen u.a. vor Der Sinn des Lebens (2008), Das Böse (2011), Warum Marx recht hat (2012) und Hoffnungsvoll, aber nicht optimistisch (2016).

Eins


Der Marxismus ist erledigt. Denkbar, dass er in gewissem Maße relevant war für eine Welt der Hochöfen und Hungerrevolten, der Kohlekumpel und Kaminkehrer, der Verelendung und einer anschwellenden Arbeiterklasse. Aber er hat ganz gewiss nichts zu tun mit den zunehmend klassenlosen, sozial mobilen, postindustriellen westlichen Gesellschaften der Gegenwart. Er ist das Glaubensbekenntnis derer, die zu verbohrt, ängstlich oder verblendet sind, um einzusehen, dass die Welt sich verändert hat – und dasfor good: zum Guten und in alle Ewigkeit.

Dass der Marxismus erledigt sei, wäre überall Musik in den Ohren der Marxisten. Sie könnten ihre Märsche und Streikposten vergessen, in den Schoß ihrer bekümmerten Familien zurückkehren und am Abend das häusliche Glück genießen, statt eine weitere ermüdende Ausschusssitzung über sich ergehen zu lassen. Marxisten haben keinen sehnlicheren Wunsch, als das Dasein des Marxisten hinter sich zu lassen. Insofern ist Marxist zu sein etwas gänzlich anderes, als Buddhist oder Milliardär zu sein. Es ähnelt eher der Situation des Mediziners. Mediziner sind widernatürliche, den eigenen Interessen zuwider handelnde Geschöpfe, die sich selbst um ihre Arbeit bringen, indem sie Patienten heilen, von denen sie dann nicht mehr gebraucht werden. Ganz ähnlich besteht die Aufgabe politisch Radikaler darin, an einen Punkt zu gelangen, an dem sie sich selbst überflüssig machen, weil ihre Ziele erreicht sind. Dann könnten sie sich ins Privatleben zurückziehen, ihre Che-Guevara-Poster verbrennen, sich wieder dem lange vernachlässigten Cello widmen und sich über spannendere Dinge unterhalten als die asiatische Produktionsweise. Sollte es in zwanzig Jahren noch Marxisten oder Feministen geben, wäre das eine traurige Aussicht. Der Marxismus ist als rein provisorisches Projekt gedacht, weshalb jeder, der seine gesamte Identität auf ihn gründet, einem Missverständnis erliegt. Der ganze Sinn des Marxismus besteht darin, dass es ein Leben nach dem Marxismus gibt.

Diese ansonsten verlockende Aussicht wirft allerdings ein Problem auf. Der Marxismus ist eine Kapitalismuskritik – die gründlichste, kompromissloseste, umfassendste jemals vorgebrachte Kritik dieser Art –, zugleich die einzige, die große Regionen der Erde umgestaltet hat. Solange also der Kapitalismus im Geschäft ist, muss es auch der Marxismus sein. Nur wenn er seinen Gegner in den Ruhestand schickt, kann er auch sich selbst zur Ruhe setzen. Und alles spricht dafür, dass der Kapitalismus so gesund und munter ist wie je. Das wird heute auch von den meisten Kritikern des Marxismus nicht bestritten. Sie behaupten vielmehr, das System habe sich seit den Zeiten von Marx fast bis zur Unkenntlichkeit verändert und deshalb seien dessen Ideen nicht mehr von Belang. Bevor wir diese Behauptung genauer untersuchen, sei angemerkt, dass sich Marx der ständigen Veränderlichkeit des von ihm in Frage gestellten Systems sehr wohl bewusst war. Dem Marxismus selbst verdanken wir die Begriffe für die verschiedenen historischen Formen des Kapitals: Handels-, Agrar-, Industrie-, Monopol-, Geldkapital und so fort. Warum also sollte der Umstand, dass der Kapitalismus in den letzten Jahrzehnten seinen Charakter verändert hat, eine Theorie in Frage stellen, die so wesentlich a