1. KAPITEL
Stuttgart, Herbst1863
Während draußen auf den Straßen der Stadt das Leben in vollem Gange war, herrschte im Frühstückssalon des Kronprinzenpalais noch morgendlicher Müßiggang. Wie so oft war Thronfolger Karl auch am Vorabend erst sehr spät nach Hause gekommen und saß nun blass und in sich gekehrt am Frühstückstisch. Obwohl er nach seinem nächtlichen Ausgang die Kleidung gewechselt hatte und einen Morgenrock trug, roch er aus allen Poren nach Zigarettenrauch und Wein.
Was für ein schrecklicher Mann!, dachte Baronin Evelyn von Massenbach nicht zum ersten Mal bei sich, während sie ihm und seiner Gattin, der Kronprinzessin Olga, aus diversen Zeitungen vorlas. Karls Leib und sein Gesicht waren infolge seiner Lebensweise von Jahr zu Jahr aufgedunsener und schwammiger geworden, und seine Augen wirkten kleiner. Lag das nur daran, dass der Thronfolger regelmäßig mit befreundeten Herren durch sämtliche obskure Stuttgarter Gasthäuser zog und die Nacht zum Tage machte? Gott sei Dank wusste Evelyn nicht, mit wem er unterwegs gewesen war und zu welchem Zweck. So brauchte sie, wenn seine Gattin sie fragte, nicht zu lügen. Je weniger sie wusste, desto besser! Andere hielten sich mit ihrer Neugier nicht derart zurück, und so wurde in den Salons der Stadt heftig über das »unziemliche« Verhalten des Kronprinzen getratscht. Wie gut, dass seine Gattin davon nichts mitbekam!
Im Gegensatz zum derangierten Kronprinzen wirkte Olly, wie Kronprinzessin Olga von allen genannt wurde, an diesem Herbstmorgen frisch und ausgeschlafen. Das grün-silbern karierte Kleid, das sie erst kürzlich gemeinsam im feinsten Modehaus der Stadt ausgesucht hatten, stand ihr ausnehmend gut, befand Evelyn zufrieden. Der Blick, den sie Olly zuwarf, war voller Bewunderung, Zuneigung und Hingabe. Mit ihren einundvierzig Jahren war die Zarentochter noch immer schlank wie eine russische Birke, ihr Blick war klar, und keinerlei Fältchen oder Linien krochen über ihr edles Antlitz. Für die dreiunddreißigjährige Evelyn, die ebenfalls als äußerst attraktiv galt, stand fest, dass ihre Herrin eine sehr schöne Frau war. Und dieser Meinung schlossen sich die meisten an. Sogar der berühmte Maler Franz Xaver Winterhalter hatte bei seinem letzten Besuch verlauten lassen, dass er an sämtlichen europäischen Höfen lange suchen musste, um eine Schönheit wie Olly zu erblicken.
Schönheit … Nun, sie war allerdings kein Garant für ein glückliches Leben.
Eine Welle von Unmut schwappte über Evelyn, während sie versuchte, den Geruch nach Zigarettenrauch, der von dem Prinzen ausströmte, zu ignorieren. Der elegante Salon, von Olly mit feinsten Möbeln, Bildern und Accessoires eingerichtet, kam ihr auf einmal stickig vor. Am liebsten hätte sie eigenhändig die schweren Samtvorhänge aufgezogen, um Licht und frische Luft in den Raum zu lassen.
In neutraler Stimmlage fuhr sie fort, den Zeitungsartikel über den Frankfurter Fürstentag vorzulesen, und zumindest Olly schien er sehr zu interessieren. Karl widmete sich derweil eingehend seinem üppigen Morgenmahl. Dass Preußens König Wilhelm I. dem Treffen in Frankfurt ferngeblieben war, welches daraufhin ohne Ergebnis zu Ende ging, schien den Kronprinzen weniger zu interess